Sonntag, Oktober 6

Eric Bergkraut war zwanzig Jahre mit der Schriftstellerin verheiratet und hat sie in den Tod begleitet. Seine Aufzeichnungen dazu sind jetzt als Buch erschienen. Das ist bewegend, an vielen Stellen aber auch peinvoll misslungen.

2016 erkrankte die Schriftstellerin Ruth Schweikert an Brustkrebs. Die Behandlung verlief gut, lange schien der Tumor unter Kontrolle zu sein. Dann kehrte die Krankheit zurück. Die nachfolgenden Therapien waren belastend und doch nicht ausreichend. Zu Jahresbeginn 2023 stellte sich eine vorübergehende Besserung ein. Die schwere Chemotherapie schien gewirkt zu haben, das Blutbild war in Ordnung, auch die bildgebenden Verfahren zeigten keinen Befund.

Es sah fast nach Heilung aus. Nur fühlte es sich nicht an wie eine solche. Denn die Nebenwirkungen waren verheerend. Aber vielleicht waren sie auch nur Vorboten des Kommenden. Im März 2023 erlitt Ruth Schweikert einen heftigen Rückfall. Die Tumorzellen mussten sich schlagartig vermehrt haben, sie wucherten im ganzen Körper.

An Heilung war nicht mehr zu denken, nur ein medizinisches Wunder hätte jetzt noch helfen können. Die Ärzte redeten von einem «schmalen Steg der Hoffnung», wie der Filmemacher Eric Bergkraut, der zwanzig Jahre mit Ruth Schweikert verheiratet war, in seinem Erinnerungsbuch «Hundert Tage im Frühling» erzählt. Die Ärzte hätten vermutlich auch sagen können: ein Steg der Verzweiflung. Denn wo nur noch Hoffnung bleibt, hilft auch diese nicht mehr.

Szenen aus einem Leben

Es begann eine drei Monate dauernde Agonie, ein unaufhaltsamer Prozess des körperlichen Zerfalls. Waren erst noch kurze Gänge im Rollstuhl nach draussen möglich, blieb bald nur das Bett als einziger Aufenthaltsort. Und als auch der Verbleib in den Kliniken zur Belastung wurde, entschied Bergkraut, seine Frau nach Hause zu nehmen und zusammen mit ihren Kindern, mit Pflegepersonal und Freunden die Sterbenskranke in den Tod zu begleiten.

Bergkraut erzählt in seinem Sterbebuch und Requiem nicht nur die titelgebenden letzten hundert Lebenstage von Ruth Schweikert. In das Journal bettet er Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend ein, er flicht Schulaufsätze der siebenjährigen Schülerin ein, schildert ihre erste Begegnung mit ihm und den Coup de foudre, der sie auf der Stelle zum Liebespaar machte, er deutet einen sexuellen Übergriff auf die junge Frau an, von dem Schweikert ihm erzählt haben muss.

So entsteht eine gegenläufige Bewegung: Während in der Gegenwart das Leben schwindet, wächst in der Gegenrichtung als Erinnerung eine Lebensgeschichte heran. Jedoch suggeriert die Erzählung nicht, dass eine Biografie rund und abgeschlossen werde, stimmig in sich und ihrem Verlauf. Das Bruchstückhafte allen Lebens bleibt erhalten. Und es wird deutlich, wie Zufälle das Dasein bestimmen und dass Sinnhaftigkeit immer eine Konstruktion wäre.

Bergkraut widersteht zugleich der Versuchung, das Leben von seinem Ende her zu verklären, ebenso wie Ruth Schweikert ihrer Erkrankung keinen Sinn abzugewinnen versucht hatte. Sie nahm die Krankheit nicht als Fügung des Schicksals, der man sich zu ergeben hatte.

Umso vehementer wehrte sie sich gegen das Unausweichliche, sie verschmähte keine Pharmazeutika, gleichgültig, wie gering die Aussichten auf Genesung noch waren: «Du wolltest leben, mit aller Macht, und hast in den folgenden Monaten alle Mittel der Behandlung ausgeschöpft, die sich Dir boten», schreibt Bergkraut, der die Verstorbene immer wieder direkt anspricht, als sei es ein Brief.

Minuziös protokolliert Bergkraut den körperlichen Zerfall seiner Frau bis zum Todestag am 4. Juni des vergangenen Jahres. Er lässt die Leser teilhaben an den täglichen Ritualen der Pflege, an ihren immer weniger werdenden Gesprächen, er schildert Waschungen und Salbungen in einer Intimität, die nichts blossstellt, und er zeigt, wie zuletzt gerade noch die Augenlider kleinste Zeichen geben, wie die Atmung stetig flacher wird. Das alles ist berührend und bewegend. Der Blick auf das Sterben hat hier nichts Indezentes, nichts Demütigendes.

Kitsch und Plattitüden

Doch die Nüchternheit schwindet, je näher der Tod rückt: «Wir bereiten Dich vor auf den Flug. Aber wir, das ist der kleine Teil. Du selbst tust es seit Tagen. Man könnte sagen: Wir bereiten uns vor, von Dir geleitet.» An solchen Stellen droht der Text in den Kitsch abzustürzen. Wo Eric Bergkraut aufhört zu erzählen, was er sieht, wo er sich seinen verklärenden Imaginationen hingibt, da kommt am Ende nur Zuckerwerk hervor.

Das gilt auch für die eingestreuten Reflexionen mit ihren gestelzten Maximen: «Jeder stirbt für sich alleine», nach Hans Falladas gleichnamigem Roman, ist ohnehin eine seltsame Entgleisung und in diesem Kontext eine sinnfreie Plattitüde. Auch dies hier: «Sterben ist ein intimer Akt. Nichts gehört uns mehr als der physische Akt des Todes, scheint es.»

Wirklich? Scheint es? Oder scheint es vielleicht nicht? Denn bestätigt Bergkraut mit seinem Brevier des Sterbens nicht gerade das Gegenteil: Es gibt nichts weniger Intimes als das Sterben. Oder anders formuliert: Das Sterben bleibt gerade hier nicht intim. Die Welt soll wissen, wie Ruth Schweikert gestorben ist.

Kein Satz in diesem Buch ist falsch. Niemand ist befugt, auch nur gegen einen einzigen Satz etwas einzuwenden. Es ist Eric Bergkrauts Geschichte vom Sterben seiner Frau und der Mutter seiner Kinder. Sie geht niemanden etwas an. Im Augenblick aber, da diese Erzählung der Agonie öffentlich wird und in eine Trauerarbeit mündet, die vor den Augen aller stattfindet, verwandelt sie sich. Sie wird zelebriert.

Man kann nicht sagen, dass dadurch eine Falschheit in die Sätze gelangt, aber gewiss ein falscher Ton. Eine unangenehme Selbstgefälligkeit. Aus Merksätzen werden dann plötzlich pathetische Aphorismen: «Du wolltest leben und Du wusstest zu sterben.» Das ist das eine. Ebenso schwer wiegt, was nicht im Buch steht. Das Schweigen zum Beispiel. Nie entsteht der Eindruck, es verschlage jenem, der über das Sterben schreibt, die Sprache. Nie verstummt er, sei es aus Verzweiflung oder weil vor dem Unaussprechlichen einfach die Worte fehlen.

Wahrheit des Scheiterns

Es erstaunt nicht, dass ganz am Ende des Buches ein Satz steht, der als flapsiges Bonmot auf einem Kalenderblatt stehen könnte: «Das Beste an Deinem Tod ist, dass ich nicht mehr fürchten muss, Du könntest sterben.» Hier schielt Bergkraut nurmehr aufs Publikum.

Indessen überfallen ihn auch bestürzend luzide Wahrnehmungen: «Ich fürchte den Moment, an dem ich mich zunächst an meine Erinnerung erinnern werde. Und nicht an Dich. Eine Art zweites Verschwinden.» In solchen Momenten ist der Trauernde ganz bei sich, bei seinem Verlust und bei der äussersten Verlassenheit.

Es ist darum ein seltsames Paradox: Im Nebeneinander des Banalen und des Erhabenen findet das Schreiben über das Sterben zu einer eigenen Authentizität. Es kann nicht gelingen. Im Scheitern liegen seine Wahrheit und Würde.

Eric Bergkraut: Hundert Tage im Frühling. Geschichte eines Abschieds. Limmat-Verlag, Zürich 2024. 206 S., Fr. 32.90.

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