Die Schweiz wollte von der EU ein Stromabkommen, nun sorgt man sich im Parlament, dass dieses das ganze Vertragspaket zu Fall bringen könnte. Die Rettung sieht man in einem «Basispaket» ohne Strom.
Der Moment der Wahrheit rückt näher. Der Bundesrat will demnächst die Verhandlungen mit der Europäischen Union abschliessen. Die Spannung steigt, welches Ergebnis die Regierung vorlegen wird und welche Ausnahmen, Garantien oder Schutzklauseln die Schweizer Diplomaten aushandeln konnten. Neben dem Inhalt interessiert zunehmend auch die Frage, in welcher Form das Parlament über das Vertragspaket beschliessen wird. Sollen sich National- und Ständerat zu jedem Vertrag separat äussern können? Zu mehreren Verträgen zusammen? Oder braucht es einen einzigen Genehmigungsbeschluss über das Ganze, den man in dieser Form dann auch in die Volksabstimmung schickt?
Aussenpolitiker wollen «Basispaket» retten
Der Bundesrat hat bisher stets von einem «Paketansatz» gesprochen: Alle inhaltlichen Anliegen werden zwischen der Schweiz und der EU parallel verhandelt, und zwar im Rahmen eines Gesamtpakets. Das mache es einfacher, Lösungen zu finden, und liege im Interesse der Schweiz. Zu diesem Gesamtpaket zählen die fünf bestehenden Marktabkommen (Personenfreizügigkeit, Luft- und Landverkehr, technische Handelshemmnisse, Landwirtschaft), die je mit institutionellen Regeln wie der dynamischen Rechtsübernahme und der Streitbeilegung angereichert werden sollen. Ebenso dazu gehören drei neue Abkommen zum Strom, zur Lebensmittelsicherheit und zur Gesundheit. Weitere Elemente des Gesamtpakets sind verbindliche und höhere Kohäsionszahlungen an die EU oder die Beteiligung der Schweiz an EU-Programmen.
Nun zeichnet sich aber ab, dass das Gesamtpaket kein solches bleiben wird. Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S) spricht sich nämlich dafür aus, das Paket aufzuteilen und den Inhalt neu zu schnüren – aus eins mach zwei oder mehr. Mit 10 zu 1 Stimmen hat sie beschlossen, «den Bundesrat in einem Schreiben darauf hinzuweisen, dass die drei zusätzlichen Abkommen (Strom, Gesundheit, Lebensmittelsicherheit) nicht Teil des Basispakets mit den fünf bestehenden Binnenmarktabkommen sind». Die APK-S fordert, dass das Parlament über diese drei zusätzlichen Abkommen gesondert soll befinden können – in separaten Beschlüssen.
Ob der Antrag auf Aufteilung des Gesamtpakets aus der Kommission selber gekommen ist oder ob er vom Aussenminister Ignazio Cassis eingebracht wurde, darüber gibt es unterschiedliche Darstellungen. Cassis soll sich dem Ansinnen auf jeden Fall nicht widersetzt haben.
Die APK-S argumentiert mit dem demokratischen Handlungsspielraum. Das Parlament müsse sich so differenziert wie möglich zu den verschiedenen Entwürfen äussern können. Der tiefere Grund für das Schreiben der Kommission liegt allerdings woanders, nämlich beim Stromabkommen. Dieses stösst auf heftige Kritik, und zwar von mehreren Seiten: von Liberalisierungsgegnern, Gewerkschaften, Bergkantonen, kleineren Netzbetreibern. Der kumulierte Widerstand gegen das Stromabkommen ist so massiv, dass er die Chancen des Vertragspakets, das ohnehin einen schweren Stand hat, zusätzlich verschlechtert. Das wollen die EU-freundlichen Aussenpolitiker im Ständerat verhindern: Das Stromabkommen soll nicht mehr Teil des Gesamtpakets sein, um den Rest, das «Basispaket», nicht weiter zu gefährden.
Unter den Kritikern des EU-Abkommens sind die Meinungen über das taktisch beste Vorgehen geteilt. Für die einen wäre das Stromabkommen derart desaströs für die Schweiz, dass sie kein Risiko eingehen und es auf keinen Fall im Paket drin lassen möchten. Daneben gibt es die anderen, die das umstrittene Thema aus genau diesem Grund unbedingt im Gesamtpaket drin behalten möchten: weil sich damit die Chancen erhöhen, dass es zu einem Totalabsturz kommt, im Parlament oder spätestens an der Urne.
Sollten Bundesrat und Parlament das Thema Strom streichen, wäre dies allerdings fast schon eine Ironie der Geschichte. Es war die Schweiz, die den Abschluss eines Stromabkommens wünschte. Man brauche das Abkommen für die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität, hiess es. Doch dafür müsse man der EU anderswo entgegenkommen und Hand bieten für die institutionellen Regeln.
Wenn das Stromabkommen jetzt als Argument wegfällt, dürfte es für den Bundesrat und die EU-freundlichen Kreise noch schwieriger werden, zu erklären, warum die Schweiz das «Basispaket» mit den unangenehmen Dingen wie der dynamischen Rechtsübernahme oder den höheren Kohäsionszahlungen akzeptieren muss.
Was meint die EU?
Eine andere Frage ist, was die EU davon hält, wenn die Schweiz das Stromabkommen aus dem Paket herauslösen und – im Parlament oder an der Urne – ablehnen sollte. Im Common Understanding, das die Grundlage für die Verhandlungen darstellt, steht: «Die Europäische Kommission und die Schweiz teilen die Auffassung, dass über ein Gesamtpaket verhandelt werden sollte.» Dieses sollte «Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit» umfassen.
Die EU könnte sich also auf den Standpunkt stellen, dass das Stromabkommen essenzieller Teil des Gesamtpakets ist, auf das man sich mit der Schweiz im Grundsatz geeinigt hat. Allerdings scheint man in Brüssel vornehmlich daran interessiert zu sein, dass die Schweiz die institutionellen Regeln in den erwähnten fünf Abkommen einführt. Das Stromabkommen dürfte nicht zuoberst auf ihrer Liste stehen.
Auf die Frage, ob eine allfällige Aufteilung des Gesamtpakets und ein möglicher Verzicht auf das Stromabkommen mit der EU abgesprochen seien, teilt das Aussendepartement mit, dass man sich gegenseitig regelmässig über die internen Prozesse informiere. Der Bundesrat werde dem Parlament im Rahmen der Gesamtbotschaft zum Paket Schweiz – EU einen Vorschlag zur Struktur der «Genehmigungsvorlage» unterbreiten.