Sonntag, Oktober 6

Er ist siebzig Meter lang und erzählt die Geschichte von Wilhelm dem Eroberer: Der Teppich von Bayeux ist ein nationales Monument. Für Frankreich und England.

Tausend Jahre sind ein dickes Buch. Oder ein Pfad, der steil bergauf führt. Mit jeder Granitstufe, die man am Mont-Saint-Michel höhersteigt, hebt sich der Blick mehr in die Weite. Zuoberst steht die goldene Statue des Erzengels Michael. Er schickt mit seinem Schwert Funken über den Berg, der unter seiner Herrschaft steht. Unten am Strand mäandert der Schlick im Rhythmus von Ebbe und Flut in den wässrigen Horizont. Auf dem Weg zurück ins Mittelalter rinnen Gestern und Heute ineinander wie der Sand in der Bucht von Mont-Saint-Michel.

Vor tausend Jahren legten Benediktinermönche hier im Auftrag der Normannen den Grundstein für eine grosse, befestigte Abtei. Sie liessen all die kostbaren Pergamentbögen sammeln, die das Wissen der Antike enthielten: über Mathematik, Astronomie, Philosophie, Geschichte. Wissen war ihre Macht. Und wenn der Wind um die Mauern toste und das Wasser bei Flut den Berg wie eine Insel umschloss, wurde in der Halle für die Pilger ein Feuer entfacht.

Tausend Jahre sind viele Geschichten: «Hic Willem dux et exercitus eius venerunt ad Montem Michaelis» – «Hier sind Herzog Wilhelm und sein Heer zum Mont-Saint-Michel gekommen»: So steht es mit Garn in die berühmteste Leinwand der Welt gestickt: die Tapisserie von Bayeux, ein am Ende des 11. Jahrhunderts entstandenes «Geschichtsbuch», das in Bildern von der Eroberung Englands durch die Normannen und von der Schlacht bei Hastings erzählt.

Unter dem Schriftzug traben Pferde, die Reiter tragen Schild und Lanze. Die Nacken unter dem Haarschopf sind ausrasiert, wie es der damaligen Mode entsprach. Der Anführer des Heeres ist mit Helm, Kettenhemd und Sporen gerüstet. Daneben Schiffe mit gesetzten Segeln, bemannt mit bewaffneten Kriegern. Und im Hintergrund die Silhouette des Mont-Saint-Michel.

Ehrgeizige Männer

Wilhelm, der normannische Herzog und Abkömmling jener Wikinger, die den Norden Frankreichs sengend und mordend in Besitz genommen hatten, muss sein Land verteidigen. Gegen einen Feind, der seine Herrschaft über die Bretagne hinaus ausdehnen will. Die Zeiten sind rau. Wer das Land hat, hat die Macht und das Gesetz, das Ansehen, die Loyalität und die Abgaben.

120 Kilometer, einst zwei Tagesritte, trennen den Mont-Saint-Michel von der Stadt Bayeux: Tausend Jahre sind hier diese fast siebzig Meter lange Leinwand. Sie gehört als «Teppich von Bayeux» oder «Tapisserie von Bayeux» zu den bekanntesten Stücken im Bestand des Unesco-Weltkulturerbes. Das Meisterstück aus dem 11. Jahrhundert erzählt die Geschichte von Wilhelm dem Eroberer und Harold, dem englischen König. Die Geschichte zweier ehrgeiziger Männer im Kampf um Englands Krone.

Lange wurde der Teppich in der Kathedrale Notre-Dame de Bayeux aufbewahrt. Seit Anfang der achtziger Jahre ist der Stoff, der auf wundersame Weise Brände, Plünderungen, den Transport auf dem Revolutionskarren und die Raffgier der nationalsozialistischen Besatzer überstand, im Museum von Bayeux zu sehen. Allerdings nur noch ein Jahr lang. Dann beugen sich für zwei Jahre die Restauratoren über ihn.

Der Teppich von Bayeux ist ein nationales Monument. Für England und Frankreich. 2018 hatte Präsident Macron der damaligen Premierministerin Theresa May versprochen, das Stück nach England auszuleihen. Ohne vorher Fachleute zu konsultieren. Die stoppten den Präsidenten mit dem Hinweis darauf, dass der Zustand des Stoffs einen Transport nicht zulasse. Bestandsaufnahmen belegen 24 204 Flecken, 16 445 Falten, 30 Risse und 9646 Lücken in den Wollstickereien und dem leinenen Untergrund, die restauriert werden müssen.

Die Briten dürfen dafür das neue Museum bauen, in dem der Teppich künftig ausgestellt wird: 2027, wenn Wilhelm der Eroberer seinen tausendsten Geburtstag feiern würde, soll es zur Verfügung stehen. Der Umbau nach Plänen des Londoner Architekturbüros RSHP kostet etwa 35 Millionen Euro.

Mit Wilhelm im Krieg

Eine länderübergreifende Zusammenarbeit also, nach einer langen Geschichte von Kriegen, Eroberungen und Verlusten, von Annäherung und Bündnistreue. Der Sieg des Normannen Wilhelm in der Schlacht von Hastings im Jahr 1066 hat England und einen Teil Europas für immer verändert. Er führte dazu, dass England wie Frankreich je eine starke kulturelle Identität und ein Nationalgefühl entwickelten. Markantes Merkmal wurde die Sprache. Engländer wollten das Französische, die Sprache Wilhelms, nicht länger verwenden.

Der Teppich von Bayeux spricht weder Englisch noch Französisch, aber Historiker betrachten ihn als seriöse Geschichtsquelle, die zudem von der Kleidung bis zum tragbaren Backofen und zu den Waffen eine ziemlich detaillierte Vorstellung vom Alltagsleben im Mittelalter gibt. Die Stickerei berichtet in 58 Szenen, mit 626 Personen, 202 Pferden, 67 lokalisierbaren Gebäuden wie dem Mont-Saint-Michel und 41 Segelschiffen die Geschehnisse stringent und nüchtern. Einige Rätsel sind trotzdem noch nicht gelöst.

Die Verwicklungen beginnen mit Edward, dem kinderlosen angelsächsischen König von England, der kein ordentliches Testament gemacht hat. In seiner Jugend musste er aus politischen Gründen zu den Normannen flüchten. Später betraute er seinen Schwager Harold von Wessex mit einer Mission: Er sandte ihn als Boten zu Wilhelm, dem Herzog der Normandie, mit dem Auftrag, mit diesem Verhandlungen führen.

Harold schliesst sich einem Feldzug Wilhelms an und rettet vor dem Mont-Saint-Michel Soldaten aus dem tödlichen Treibsand. Er ist mutig und loyal. Ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle, wie es in zeitgenössischen Quellen heisst. Ein wichtiges Detail, denn es deutet darauf hin, dass die lang gehegte Annahme, die Stickerei sei reine normannische Propaganda, wenig wahrscheinlich ist.

Rätselhafter Eid

Entscheidend ist: Harold schwor Wilhelm einen Eid. Laut mehreren Quellen versprach er ihm, den Thronanspruch in England zu unterstützen, denn Edward soll Wilhelm die Krone versprochen haben. Dann kehrt Harold nach England zurück, wo ihn Edward ans Totenbett ruft, um ihm das Wohl des reichen Landes in die Hände zu legen. Ob sich daraus ein Anspruch ableiten lässt, ist unklar. Die Führungsschicht lässt ihn jedenfalls krönen.

Was heisst das nun? War Harold eidbrüchig? Hatte er den Eid gegenüber Wilhelm unter Zwang abgelegt? Was ist eine Verfügung wert, die auf dem Totenbett erlassen wurde? Hatte Wilhelm einen Rechtsanspruch, oder war er ein Thronräuber, der über Leichen ging, um seinen Machthunger zu stillen, und dabei England politisch und kulturell für immer veränderte? Die Historiker streiten bis heute darüber.

Fest steht: In der Schlacht bei Hastings kam Harold ums Leben. Im Kampf mit den Normannen, der zu einem schrecklichen Gemetzel wurde. Harold soll einen Pfeil ins Auge bekommen haben und wurde anschliessend mit einem Schwerthieb getötet. Wilhelm liess den Gefallenen in Stücke hauen. Die Stickerei bildet das Grauen auf beiden Seiten ab. So eindrücklich, dass man das Donnern der Hufe und die Schmerzensschreie zu hören meint.

Nicht nur die Darstellungen auf dem Teppich werfen Fragen auf. Auch seine Entstehungsgeschichte verliert sich im Dunkel. Wer ihn in Auftrag gegeben hat, weiss niemand. Viele Historiker halten Odo, den Bischof von Bayeux, Halbbruder Wilhelms und Kampfgefährte in der Schlacht, für den Besteller. Er wurde nach der Eroberung Englands Bischof von Kent. Diese Grafschaft mit der Abtei von Canterbury als geistigem Mittelpunkt war im 11. Jahrhundert ein Zentrum der Stickkunst.

Erhoffte Versöhnung?

Andere halten die Mönche vom Mont-Saint-Michel mit ihren Verbindungen zu England und Frankreich für die entscheidenden Impulsgeber. Die Stickerei spielt an mehreren Stellen erkennbar auf die Fabeln des antiken römischen Dichters Phaedrus an. Zudem zeigt die Anordnung der Figuren Ähnlichkeit zur derjenigen auf der Trajanssäule in Rom. Einige Forscher denken sogar daran, dass die Stickerei ein anglonormannisches Gemeinschaftswerk sein könnte. Geschaffen im Dienst einer erhofften Versöhnung.

Die Geschichte nimmt kein Ende. Omaha Beach, wo Briten und Franzosen dieses Jahr der Befreiung vom nationalsozialistischen Joch vor achtzig Jahren gedachten, ist nicht weit von Bayeux entfernt. Auf dem britischen Soldatenfriedhof der Stadt sind das längst Vergangene und das noch immer Gegenwärtige in Stein gemeisselt. «Nos a Gulielmo victi victoris patriam liberavimus», steht auf dem Mahnmal für die Soldaten, die bei der Schlacht um die Normandie verschollen sind: «Wir, die wir von Wilhelm besiegt wurden, haben die Heimat des Siegers befreit.»

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