Die obersten Einkommensschichten kommen im Tessin steuerlich schlechter weg als in anderen Kantonen. Eine Reform soll das ändern. Die Linke hat dagegen das Referendum ergriffen. Scheitert die Vorlage, steigen die Steuern aber für alle.
Das Tessin bereitet sich auf einen intensiven Abstimmungssonntag vor. Zusätzlich zu den vier eidgenössischen Vorlagen befindet das Tessiner Stimmvolk am 9. Juni über drei kantonale Geschäfte. Mindestens zwei davon sind heftig umstritten. Während die Kompensationsmassnahmen für die kantonale Pensionskasse problemlos angenommen werden dürften, wird über den geplanten Kauf eines Gebäudes der ehemaligen Banca del Gottardo in Lugano und über eine Steuerreform heftig debattiert.
Mit der Steuerreform sollen vor allem die Reichsten im Kanton entlastet werden. Geplant ist, den Spitzensteuersatz zwischen 2025 und 2030 in sechs Schritten um jährlich 0,5 Prozentpunkte zu reduzieren. Damit soll er von derzeit 15 auf 12 Prozent sinken.
«Diese Reduktion erlaubt uns, im interkantonalen Steuerwettbewerb bei den Einkommenssteuern vom 21. auf den 16. Rang vorzurücken», argumentiert der kantonale Wirtschafts- und Finanzdirektor Christian Vitta (FDP). In der Rangliste der Spitzensteuersätze bei den Einkommen steht der Kanton Genf an letzter Stelle, während der Kanton Zug am attraktivsten ist.
Linke und Gewerkschaften haben gegen die Reform erfolgreich das Referendum ergriffen. Obwohl 7000 Unterschriften gereicht hätten, sammelten sie fast 11 000.
Antwort auf OECD-Mindeststeuer
Im Vergleich zu anderen Kantonen ist das Tessin für tiefe Einkommen bis 60 000 Franken pro Jahr steuerlich sehr günstig und sozial. Vermögende Personen kommen aber in anderen Kantonen deutlich besser weg. Aus Sicht von Staatsrat und Parlamentsmehrheit besteht deshalb Handlungsbedarf auf dieser Seite der Skala.
Mit der Reform hofft der Kanton Tessin, sehr vermögende Personen anzulocken und damit das Steuersubstrat langfristig zu erhöhen. «Es ist auch eine strategische Antwort auf die Einführung der OECD-Mindeststeuer», sagt der Chef des kantonalen Steueramtes, Giordano Macchi.
Mit der Einführung der OECD-Mindeststeuer gilt seit Anfang Jahr ein neuer globaler Steuerstandard. Darauf haben sich rund 140 Staaten geeinigt. Damit werden Gewinne international tätiger Unternehmen zu mindestens 15 Prozent besteuert. Das Schweizer Stimmvolk hat die Mindeststeuer im Juni 2023 angenommen.
Bürgerliche warnen vor einem Nein
Der Mitte-Ständerat Fabio Regazzi spricht von einem «Reförmchen», durch das der Kanton Tessin ins Mittelfeld vorstossen könne. Die Bürgerlichen verweisen darauf, dass drei Prozent aller Steuerzahlenden für rund 30 Prozent des kantonalen Steuersubstrats bei den Einkommen aufkommen. 25 Prozent der Bevölkerung bezahlen keine Einkommenssteuern. Angesichts der hohen Abgaben, die für soziale Zwecke verwendet werden, sei es richtig, diesen Einkommensschichten etwas entgegenzukommen. Denn der Sozialstaat werde massgeblich durch die vermögenden Steuerzahler finanziert.
An der Linken prallen solche Argumente ab. «Das Votum über die Steuerreform ist wegweisend für die Politik der nächsten Jahre», so die SP-Co-Präsidentin Laura Riget. Sie hält es für einen Skandal, dass die höchsten Einkommen entlastet werden sollen, während der Kanton gleichzeitig ein eisernes Sparprogramm fährt, um das Defizit zu reduzieren, das auch zu schmerzhaften Einsparungen in sozialen Einrichtungen führt. Die Tageszeitung «La Regione» sprach ebenfalls von einem Richtungsentscheid für den Kanton. «Den Reichen wird gegeben, den Schwachen genommen», so der Tenor aufseiten der Gegner.
Die Mehrheit der Parteien im Grossen Rat – FDP, Lega und Mitte – lehnt es ab, sozialen Abbau und Steuerreduktion argumentativ zu vermengen. Sie warnen vor einer Ablehnung des Steuerpakets, weil in diesem Falle die Steuern für alle natürlichen Personen schon ab dem laufenden Jahr um 3 Prozentpunkte steigen werden, von 97 auf 100 Prozent.
Grund ist das Auslaufen einer temporären Reduktion des kantonalen Steuerfusses auf Ende 2023. Der Grosse Rat hat im Steuerpaket eine Reduktion in Höhe von 1,66 Prozentpunkten eingebaut; dies soll das Auslaufen der Reduktion im Einklang mit den Gemeindesteuern kompensieren. Sagt das Stimmvolk Nein, entfällt auch diese Kompensation.
Präventiver Schachzug der Linken
Im Erfolgsfall des Referendums fallen zudem viele unbestrittene Teile der Reform weg. Dazu gehören höhere Abzüge für Berufsauslagen, eine Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer sowie die Besteuerung von Kapitalleistungen aus der beruflichen Vorsorge.
Gerade im letzten Punkt besteht grosser Handlungsbedarf, wie ein Fallbeispiel zeigt: Eine 65-jährige Person muss für den Bezug von einer Million Franken aus der Vorsorge in Lumino 140 338 Franken Steuern bezahlen, im benachbarten San Vittore im Kanton Graubünden dagegen nur 58 000 Franken. Wenn diese Person ihr Domizil von Lumino nach San Vittore verlegt, kann sie folglich 82 338 Franken Steuern sparen.
Die Vorlage ist so angelegt, dass nicht über einzelne Reformteile abgestimmt werden kann, sondern nur über das gesamte Paket. Die SP und die Grünen haben hingegen schon eine parlamentarische Initiative lanciert, mit der sie die unbestrittenen Teile der Reform im Falle eines Erfolgs des Referendums möglichst rasch wieder ins Parlament bringen wollen. Mit diesem Schachzug will die Linke auch ihrem Image als Nein-Sager entgegenwirken.
Ein Nein zum Reformpaket würde Links-Grün im Südkanton etwas Rückenwind geben, nachdem sie im letzten Jahr bei den Wahlen auf sämtlichen Ebenen Federn lassen mussten. Ein Ja würde hingegen die bürgerliche Mehrheit im Kanton weiter festigen.