Sonntag, Oktober 6

Als Tourist erkennbar sein, das will niemand mehr. Und doch hat das kitschige Souvenir-T-Shirt derzeit Hochkonjunktur. Warum?

Wenn man wissen will, wo die Menschen dieses Jahr ihre Sommerferien verbracht haben, muss man sie nicht fragen. Man muss nicht einmal in Salzwasser und Sonnenstrahlen getauchte Instagram-Storys anschauen oder Tourismusstatistiken studieren. Nein, ihre T-Shirts proklamieren es, mal lautstark in fetten Buchstaben, mal flüsterleise mit filigranen Zeichnungen: Malta, Kopenhagen, Chicago. Oder obskurer: Hanksville in Utah, die Langstrasse in Zürich (ja, das gibt es).

Das Touristen-Shirt wird in all seiner kitschigen Herrlichkeit genauso zu Cargo-Shorts und Turnschuhen kombiniert wie zu flatternden Seidenjupes und Ballerinas. Auch Modelabels mischen mit: Beim amerikanischen Label Bode reproduzierte man ein Shirt aus den siebziger Jahren, das mit der Zeichnung eines Büffels für Buffalo, New York, warb. Bei Loewe huldigt man mit einer auf ein T-Shirt gedruckten alpinen Szene einem idyllischen Ort namens Brooks Pines. Tippt man ihn enthusiastisch auf Google Maps ein, realisiert man bald: Es gibt ihn gar nicht. Eine Traumdestination, im wahrsten Sinne des Wortes!

Es ist paradox: Während gegen Overtourism protestiert und von Langstreckenflügen abgeraten wird, mausert sich das offensichtlichste, universelle Symbol des klischierten Touristentums zum angesagten Kleidungsstück. Man trägt es mit Stolz und in der Hoffnung, darauf angesprochen zu werden, präsentiert es auf Social Media und lässt es sich, im Falle des Loewe-Shirts, 535 Franken kosten.

Ein Shirt oder ein Häufchen Dreck

Wie alle modernen Souvenirs war das Touristen-Shirt einst Teil einer Problemlösung. Unter Pilgern hatte es sich über Jahrhunderte eingebürgert, dass man ein Stück der Anbetungsstätte mitnahm. Nicht figurativ, sondern wortwörtlich: ein abgebrochenes Felsstück des Plymouth Rock oder ein Häufchen Dreck vom Boden in Jerusalem, auf dem Jesus angeblich seinem Lebensabend entgegengeschritten war. Extra hergestellte Figürchen, Schlüsselanhänger und T-Shirts waren dagegen eine willkommene und vermeintlich weniger schädliche Alternative. Mit dem Reiseboom im 20. Jahrhundert verbreitete sie sich in Windeseile und wurde zu einer eigenen Industrie.

Auch das berühmteste Souvenir-T-Shirt der Welt entstand aus einer misslichen Lage. 1977 entwarf der Grafiker Milton Glaser für eine Tourismuskampagne des Gliedstaates New York das «I love New York»-Logo mit dem leuchtend roten Herzen und der schwarzen Schreibmaschinen-Typografie. Die Aussage war damals alles andere als selbstverständlich, denn New York City war ein hartes Pflaster mit hoher Kriminalitätsrate und mehr Weg- als Zuzügern. Inzwischen ist Glasers Entwurf zu einer prototypischen Liebeserklärung und das damit bedruckte T-Shirt zu einem eigenen Modegenre geworden. Fast jede Stadt hat ihre Version.

Wollte man sich damit vielgereist geben, konnte deswegen aber bald auch das Gegenteil geschehen. Zusammen mit dem aus dem Aloha State mitgebrachten Hawaiihemd wurde das «I love New York»-Shirt – am besten in China hergestellt – zum Symbol des enthusiastischen, aber definitiv ahnungslosen Touristen. Das New Yorker Männermodelabel Reason kreierte 2006 deswegen eine Replik darauf: «Go love your own city» lautete der Schriftzug auf seinem T-Shirt. Heute würde man sagen: Tourists go home.

Nebraska, Paris, Osnabrück

Seitdem ist das stereotypische Touristen-Shirt ein Spielplatz für Modedesigner. 2015 druckte Virgil Abloh fett den mittelamerikanischen Staat Nebraska auf Shirts; es sollte für «die Mitte» stehen, «den Mittelweg» und wohl auch «das Mittelmass». Dass 2017 Shirts mit der Aufschrift «Ich komm’ zum Glück aus Osnabrück!» an der Paris Fashion Week auf dem Laufsteg getragen wurden, war dem Modelabel Vetements zu verdanken. Es hatte sie in einer Werbekampagne für die deutsche Stadt aus den nuller Jahren entdeckt und kopiert. Osnabrück gab darauf eine Neuauflage heraus. Zu einem Bruchteil des Vetements-Preises, versteht sich.

Unter den Luxushäusern ist derzeit Balenciaga der tüchtigste Souvenirverkäufer: Zu den Olympischen Spielen eröffnete das Modehaus in seiner Pariser Boutique einen Souvenirshop, wo bis September neben Tassen und elf Franken teuren Postkarten auch «I love Paris & Balenciaga»-Shirts erhältlich sind. Der Kitsch, den die Oberteile repräsentieren und den der Kunstkritiker Gilles Dorfles schon 1969 in einem Buch als «Schleier der Falschheit und bewundernden Sentimentalität» beschrieben hatte, ist zur Tugend geworden.

«Ich war da»

Denn auf der ewigen Suche nach Authentizität tut sich irgendwann die Frage auf: Was gibt es Authentischeres, als einen Ort so sehr zu mögen, dass man als Hommage ein T-Shirt kauft und es, wieder daheim, sogar trägt? Auch wenn es vor ungeliebten Klischees nur so trieft und kaum zum eigenen Stil passt?

Hinzu kommt: Souvenirverkäufe als Ganzes haben sich in den USA nach einem beispiellosen Tief während der Corona-Pandemie wieder mehr als erholt. Nicht einmal das Aufkommen von Smartphones mit ihren schier unendlichen Fotogalerien konnte unsere Liebe für kleine Eiffeltürme, Magnete mit der Golden Gate Bridge und bunte Blumenketten aus Plastik trüben. Egal, wie gut der Instagram-Content sein mag – wir sehnen uns nach Anfass- und Tragbarem.

Und ob man nun erklärter All-inclusive-Tourist ist oder tüchtig das versteckteste Grottino im entlegensten Örtchen gefunden hat, ob man nun um die halbe Welt geflogen ist oder eine kurze, CO2-sparende Zugfahrt hinter sich hat, eines ist fast sicher: Es gibt dafür ein T-Shirt. «Ich war da» ist die deliziös simple Botschaft, die sie alle gemein haben. Ausser im Falle von Brooks Pines. Da war noch niemand.

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