Freitag, Oktober 25

Der erneute Personalabbau bei wichtigen Westschweizer Zeitungen verleitet Liberale zu unorthodoxen Forderungen – und verstärkt grundsätzliche Befürchtungen.

Der eine oder die andere Deutschschweizerin dürfte sich sehr gewundert haben, kürzlich bei der Lektüre des NZZ-Doppel-Interviews mit den Genfer und Waadtländer Regierungspräsidentinnen Nathalie Fontanet und Christelle Luisier. Die beiden FDP-Mitglieder kritisierten darin den Zürcher Medienkonzern Tamedia bemerkenswert scharf für seine erneute, landesweite Sparrunde, die in der Romandie zur Schliessung einer Druckerei und zu Personalabbau bei den wichtigen Tageszeitungen «24 heures» und «Tribune de Genève» führt.

Besonders die Genferin Fontanet äusserte sich offensiv. Sie verurteilte den Tamedia-Mutterkonzern TX Group dafür, dass er zugleich Gewinne mache, Dividenden zahle und Massenentlassungen vornehme. Da Tamedia die verbleibenden Journalisten der «Tribune de Genève» noch enger an die Lausanner «24 heures» angliedern will, forderte Fontanet das Unternehmen auf, die Zeitung zu verkaufen oder gar kostenlos abzugeben.

Eine liberale Politikerin drängt ein privates Unternehmen dazu, sein Eigentum zu verschenken? Seit wann ist es in der freien Marktwirtschaft Rolle des Staates, solche Ansagen zu machen? Darf Tamedia etwa über sein Eigentum nicht «nach seinem Belieben verfügen», wie es im Schweizerischen Zivilgesetzbuch steht?

In der Deutschschweiz hingegen war aus der Politik kaum Kritik an Tamedias Einsparungen zu hören. Im Heimatkanton von Tamedia, der durch die Fusion der Zürcher Regionalblätter ebenfalls stark betroffen ist, gab es eine Anfrage von SP-Parlamentariern an die Regierung, mehr praktisch nicht. In Bern bedauerte der SVP-Medienminister Albert Rösti Tamedias Entscheid – und schob nach: «Wir üben aber keinen Einfluss auf private Unternehmen aus.»

Wie also lassen sich die deutlichen Worte der Westschweizer Liberalen erklären?

Der FDP-Chef kritisierte Tamedia schon 2009

Die Kurzantwort: Mit einem gewissen Etatismus in der Romandie, ja. Aber auch mit der Rolle der beiden Regierungspräsidentinnen als Interessensvertreterinnen ihrer Kantone. Mit ernsthafter Sorge um die Medienvielfalt und damit die Demokratie. Mit dem jahrelangen Konflikt zwischen Tamedia und der Romandie. Und letztlich mit der verbreiteten Befürchtung in der Romandie, von der Deutschschweiz ignoriert und abgehängt zu werden.

Schon als Tamedia 2009 den Kauf aller Lokal- und Regionalzeitungen des Lausanner Konzerns Edipresse verkündete, äusserte sich ein Liberaler am skeptischsten: Der damalige FDP-Chef Fulvio Pelli beklagte die Dominanz des neuen Grossverlags, und er sah die Unabhängigkeit der Schweizer Presse insgesamt zunehmend bedroht.

Unter Westschweizer Journalisten gab es zwar Befürchtungen, künftig unter der Fuchtel Zürichs zu stehen, aber einige sahen durchaus Chancen. Die Übernahme durch Tamedia habe als gute Nachricht gegolten, sagt Pierre Ruetschi, der damals Chefredaktor der «Tribune de Genève» war. Der Tamedia-Präsident Pietro Supino sei wohlwollend empfangen worden. Schliesslich sei seine Botschaft gewesen, auf Journalismus zu setzen.

Tamedia schockt 2017 die Romandie

Ein paar Jahre später, 2017, erschütterte dann ein «Erdbeben» die Romandie, wie Ruetschi es nennt. Tamedia stellte die Wochenausgaben der Zeitung «Le Matin» ein und begann die Fusion der «Tribune» mit «24 heures». Das sei ein grosser Schock gewesen, sagt Ruetschi, der Tamedia im Streit verliess, «für die Redaktionen und für die Politik». Selten habe er Politiker so scharf wie damals über ein Unternehmen in ihrem Kanton reden gehört.

Allen voran der Genfer Regierungspräsident von der FDP. François Longchamp wunderte sich, dass die Auslands- und Wirtschaftsredaktionen der «Tribune» vom internationalen, wirtschaftsstarken Genf ins unbedeutendere Lausanne abwanderten: «Die Strategie von Tamedia ergibt keinen Sinn.» Longchamp warf dem Verlag vor, seine eigentliche Mission aus den Augen zu verlieren. Und ihn störte, wie heute seine Nachfolgerin Fontanet, dass die Tamedia-Gruppe zugleich hohe Gewinne machte und ihre Zeitungen zusammensparte.

Auch die Waadtländer Kantonsregierung kritisierte Tamedia damals ungewöhnlich scharf. Das Unternehmen habe «unilateral» und «plötzlich» gemeinsame Konsultationen verlassen, hiess es in einer Mitteilung. Tamedia habe nicht den Willen gehabt, Alternativen zur Einstellung von «Le Matin» vorzuschlagen, geschweige denn zu prüfen.

Tamedia wiederum störte sich daran, dass der Staat überhaupt mit am Tisch sass bei den Gesprächen mit den Personalvertretern.

Womit wir beim Etatismus wären. Bekanntermassen setzen viele Westschweizer tendenziell mehr auf den Staat als Deutschschweizer, insbesondere in den stark von Frankreich beeinflussten Kantonen Genf und Waadt. Dieses Muster gilt auch für Liberale, wie der Lausanner Historiker Olivier Meuwly bestätigt.

Die FDP heisst auf Französisch nicht von ungefähr PLR

Bezeichnenderweise heisst ja die FDP, entstanden aus der Fusion von Liberalen und staatsfreundlicheren Radikalen, in der Westschweiz Parti libéral-radical. «Im PLR ist das R weiterhin ziemlich stark», sagt Meuwly, der selbst Mitglied der Partei ist. Das Verhältnis zum Staat sei dort ein anderes als etwa in der Zürcher oder Aargauer FDP.

Dazu kommt: Die Genferin Fontanet und die Waadtländerin Luisier äusserten ihre Tamedia-Kritik nicht in erster Linie als PLR-Politikerinnen, sondern als Präsidentinnen ihrer Kantonsregierungen. Sie vertraten also als Erste unter Gleichen den Konsens aller Regierungsräte verschiedenster politischer Couleur. Und sie reihten sich damit nahtlos ein in die jahrelange Kritik ihrer Amtsvorgänger. «Es wäre überraschend gewesen, wenn sie sich von den vorherigen Stellungnahmen distanziert hätten», sagt Meuwly.

Zumal es für die Regierungspräsidentinnen um Grundsätzliches geht: um den Erhalt von in der Region verankerten Medien, in denen sich ihre Kantone weiterhin Gehör verschaffen können, zum Beispiel in Bern. Die zweitgrösste Schweizer Stadt Genf und die Waadt wollen nicht mit Übersetzungen Deutschschweizer Artikel abgespeist werden, wie das Tamedia zunehmend tut – weil sie befürchten, dass dabei Westschweizer Stimmen, Themen und Besonderheiten verlorengehen.

Der Historiker Meuwly glaubt zudem, dass es bei der Tamedia-Kritik nicht nur um ein paar Zeitungen oder die Westschweizer Medienlandschaft geht – sondern womöglich um eine «Art Trauma am Genfersee». Denn die Region fühlt sich immer wieder benachteiligt und fremdbestimmt.

Die Romandie habe «zu viel geweint und zu wenig gehandelt»

Nicht ohne Grund. Mitte der 1990er Jahre zog die Swissair fast alle aussereuropäischen Flüge von Genf nach Zürich ab. Seit den 2010er Jahren gehör(t)en die wichtigsten Pressetitel neben Tamedia dem ebenfalls Zürcher Ringier-Verlag. Und im SBB-Netz gibt es jüngst eine Reihe von Pannen, Verzögerungen und Fahrplanreduzierungen – worin die Zeitung «Le Temps» eine «demütigende Litanei» für die Romandie sah.

Das hat Spuren hinterlassen. Und damit erklärt sich Olivier Meuwly nun auch, dass seinen Parteifreundinnen die «etwas verzweifelte Reaktion» gegenüber Tamedia wichtiger sei als die reine liberale Lehre. Letztlich gehe es um die Frage: «Was bleibt überhaupt noch in der Romandie?» Und ja, sagt Meuwly, vielleicht habe die Region in der Vergangenheit «zu viel geweint und zu wenig gehandelt».

Im Bereich der Medien jedenfalls ist die Handlungsbereitschaft nun gross. Das Schweizervolk insgesamt stimmte 2022 zwar deutlich gegen die Förderung von lokalen und regionalen Medien, aber fast alle Westschweizer Stände stimmten dafür. Die Medienkonzentration sei in der Romandie eben noch viel stärker als ennet der Saane, sagt der Deutschschweizer Juerg Eberlé, der seit langem in Lausanne lebt und sich in der Initiative «Médias pour tous» (Medien für alle) engagiert.

Die Initiative setzt sich etwa mit dem Verein Nouvelle Presse dafür ein, das Ziel der Medienvielfalt in der Schweizer Verfassung zu verankern. Die Genfer Stiftung Aventinus wiederum, präsidiert vom ehemaligen FDP-Regierungspräsidenten Longchamp, übernahm «Le Temps» und ist nun regelmässig als Käuferin im Gespräch, wenn die TX Group bei «20 Minutes» oder der «Tribune» spart.

Ein gewisser Röstigraben existiert auch bei der Haltung zur SRG: Während in der Deutschschweiz prominente FDP-Vertreter wie Marcel Dobler und Matthias Müller die Senkung der Rundfunkgebühren fordern, warnen liberale Westschweizer Regierungsräte wie Fontanet und Luisier davor. Und ernten wiederum bei manchem Deutschschweizer Parteikollegen der älteren Schule viel Verständnis. «Die Situation in der Romandie ist wirklich dramatisch», sagt der Altständerat Joachim Eder aus Zug.

Eder bekämpft als Co-Präsident der Initiative Pro Medienvielfalt, in deren Präsidium FDP-Vertreter die grösste Gruppe stellen, die Senkung der SRF-Gebühren. Er wünscht sich gar, dass das «echte und spürbare Engagement meiner Parteikolleginnen» in der Romandie «auch auf die Deutschschweiz und die Haltung einiger FDP-Mitglieder im Bundesparlament überschwappt».

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