Samstag, April 19

Nach ihrem erfolgreichen Debüt «Legenden» legt Gesa Olkusz nun ihr zweites Buch vor. Es ist eine Migrantengeschichte zweier Brüder, die in Amerika keinen Boden unter den Füssen finden. Eine abenteuerliche Lektüre.

In der Literatur gilt: Der zweite Roman ist der schwerste. Vor zehn Jahren hat Gesa Olkusz mit «Legenden» ein Debüt geliefert, das durch seine Eigensinnigkeit erstaunte. Gestochen scharfe Bilder evozierten Augenblicke der europäischen Geschichte, die von Gewalt durchdrungen waren.

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Vor dem Hintergrund der letzten Kriegsmonate im Jahr 1945 hatte die aus Bremerhaven stammende und in Berlin lebende Autorin die Themen Schuld und Humanität kaleidoskopartig ineinandergeblendet. Die Geschichte reichte bis in die Gegenwart. Bis zum zweiten Roman hat es lange gedauert. Er heisst «Die Sprache meines Bruders», und dass jetzt auch er Realitätspartikel aus verschiedenen Blickwinkeln zeigt, macht ihn zur abenteuerlichen Lektüre.

Wie ein Rorschachtest

Zwei Brüder namens Kasimir und Parker leben in einem seltsamen Haus in Seattle. Seltsam deshalb, weil seine Zimmer wie Kammern der Erinnerung sind. Hier ist alles statisch. Vor vielen Jahren ist die Mutter mit den beiden Söhnen aus Deutschland nach Amerika ausgewandert. Nach diesem Kraftakt hat sie sich zu Bett begeben und dieses bis zu ihrem Tod nicht verlassen.

Zu ihren Lebzeiten konnte man sie mit Parker flüstern hören, während Kasimir der stumme Part blieb. Es ist die Sprache – oder soll man sagen: das Schweigen? – der beiden Brüder, das sie voneinander unterscheidet. Der eine hält wortreiche innere Monologe, hat sich zu Hause verschanzt und hat nicht einmal einen Job. Dem anderen ist nach seinen Arbeitstagen als Chauffeur nicht nach Reden. Bis eines Tages eine Frau namens Luzia ins Haus kommt. Sie ist Parkers neue Freundin. An ihr ist alles «flüchtig und ungreifbar». Sie reist mit leichtem Gepäck durchs Leben, und das unterscheidet sie fundamental von den beiden Brüdern.

Was sieht man, wenn man den neuen Roman von Gesa Olkusz liest? Ein bisschen ist es wie ein Rorschachtest. Je nach Blick verschiebt sich die Story. «Die Sprache meines Bruders» könnte eine Migrantengeschichte sein, eine Allegorie des Nichtankommens. Da sind Einwanderer, die keinen Boden unter den Füssen bekommen.

Sie bewegen sich durch fragile Konstruktionen. Selbst das Haus, in dem sie wohnen, scheint eine Art Luftgebilde zu sein. Der Garten neben diesem Haus verwildert. Kontakte zu den Nachbarn hat man nach einem kurzen Treffen schon wieder abgebrochen. Geschickt schafft Gesa Olkusz eine Atmosphäre aus Klaustrophobie und maximaler Bedeutungsoffenheit. Es ist, als würde man Menschen von oben in einem Labyrinth beobachten. Man kennt den Ausweg, kann aber nicht helfen. Wäre es paradox, zu sagen, dass auch im Labyrinth der Weg das Ziel sein kann?

Unglückshaus des Schweigens

Die Lage im Roman bleibt verwickelt, auch wenn eines Tages alles nach Aufbruch aussieht. Luzia hat das Unglückshaus des Schweigens plötzlich verlassen. Parker, der ob dieses Umstands bestürzt sein müsste, geht am Tag darauf pfeifend zur Arbeit. Das wiederum irritiert Kasimir. Parker bleibt genauso wie Luzia verschollen. Letztere, so wird man erfahren, hat sich nach Panama abgesetzt. Als Chauffeur betreut Parker einen reichen Herrn namens Stettke, der ebenfalls Migrant ist. Die beiden fahren nachts durch die amerikanische Grossstadt, bis sich Parker seine Lebensgeschichte von der Seele redet und allmählich klar wird, worin das Trauma der beiden Brüder liegt.

Dieses besteht darin, dass sie einmal fast glücklich waren. Damals in einem anderen Land. «Legenden», das Debüt von Gesa Olkusz, war mit Erzählungen angereichert, die sich zwischen Wahrheit und Erfindung bewegen. Die in der Wirklichkeit einen doppelten Boden erkennen. Richtig doppelbödig wird es im neuen Roman, wenn vom Vater die Rede ist. Immer auf der Flucht soll er gewesen sein, aber die Reise nach Amerika hat er nicht auf sich genommen und damit die Familie zerstört. Wie ein Eremit sass er daheim auf einem Baum und wollte auch nicht mehr herunterkommen. Olkusz nimmt damit ein Motiv auf, das es schon in «Legenden» gab. Der Baum des Vaters war das, was später das Zimmer der Mutter sein sollte. Rückzugsort und Gefängnis in einem. Nach den üblichen Massstäben geistiger Gesundheit könnte man beiden wohl leichte Verrücktheit attestieren, aber das hier ist natürlich Literatur. In «Die Sprache meines Bruders» geht es zu, als hätten sich Kafka und Freud gemeinsam einen Scherz erlaubt.

Ziemlich konsequent testet Gesa Olkusz aus, wie weit ein Roman gehen kann. Welche absurden Volten nimmt der Leser in Kauf, bevor er die Hoffnung fahren lässt, auf einen Kern von Wirklichkeit zu treffen? Hat die Wirklichkeit überhaupt einen Kern?, würde die Autorin vielleicht zurückfragen. Das Haus, das die Autorin für ihren Roman so eindrücklich erfunden hat, funktioniert wie die berühmte platonische Höhle. In seinen Zimmern gibt es kein Leben, sondern nur die Schatten des Lebens. Noch als sie längst tot ist, scheint das Murmeln der Mutter aus ihrer Kammer zu dringen, unverständlich und doch fordernd: «Mumble Jumble. Musik. Singsang.» Ein grosses «und so weiter». Wer Spass an Freud hat, wird hier auf seine Kosten kommen.

Gesa Olkusz: Die Sprache meines Bruders. Roman. Residenz-Verlag, Salzburg 2025. 174  S., Fr. 34.90.

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