Montag, November 25

Vor vierzig Jahren wurde die indische Premierministerin von ihren Sikh-Leibwächtern in Delhi erschossen – aus Rache für einen Militäreinsatz im wichtigsten Heiligtum der Sikhs. Der Mord löste eine Welle der Gewalt aus, die bis heute nachwirkt.

Die Kugeln trafen Indira Gandhi im Garten ihrer Residenz in Delhi. Die indische Premierministerin war am Morgen des 31. Oktober 1984 gerade auf dem Weg zu einem Interview, als zwei ihrer Leibwächter das Feuer eröffneten. Mit seinem Dienstrevolver feuerte Beant Singh fünf Kugeln auf die 66-Jährige ab, bevor sein Komplize das Magazin seiner Maschinenpistole in sie entleerte. Beide Männer waren Sikhs. Mit dem Mord an der Kongress-Politikerin wollten sie Rache nehmen für die Stürmung des Goldenen Tempels fünf Monate zuvor.

Die Premierministerin hatte die Armee im Juni 1984 angewiesen, das wichtigste Heiligtum der Sikhs in Amritsar zu stürmen, in dem sich eine Gruppe radikaler Sikh-Separatisten verschanzt hatte. Die Operation Blue Star sollte die militanten Anhänger der Khalistan-Bewegung aus dem Tempelkomplex im Nordosten Indiens vertreiben. Der Militäreinsatz geriet jedoch zum Desaster und kostete neben Hunderten Separatisten und Soldaten auch Tausende Sikh-Pilger das Leben.

Für die Sikhs war der Einsatz ein Angriff auf ihre Religion. Gegründet im 15. Jahrhundert von Guru Nanak, ist der Sikhismus die kleinste der monotheistischen Weltreligionen. In Indien sind die Sikhs mit rund 25 Millionen eine Minderheit, wobei die meisten im Teilstaat Punjab leben. Seit der britischen Kolonialzeit sind sie in Polizei und Militär aber stark vertreten, da sie als besonders kriegerisch gelten. Die Ereignisse von 1984 stellten ihre Loyalität zu Indien jedoch auf eine harte Probe.

Viele Sikhs sehen den Mord an Indira Gandhi noch immer als gerechte Vergeltung für die Operation Blue Star. Der Attentäter Beant Singh, der noch vor Ort von anderen Leibwächtern erschossen wurde, gilt ihnen weniger als Mörder denn als Märtyrer. Sein Todestag wird seit Jahren im Goldenen Tempel gefeiert, und sein Sohn wurde im Juni im Punjab ins Parlament gewählt. Auch der Streit zwischen Indien und Kanada zeigt, wie stark die Ereignisse von 1984 nachwirken.

Die Sikhs fürchteten um ihre kulturelle Identität

Schon seit Jahren beschuldigt Indien Kanada, zu wenig gegen die Khalistan-Bewegung zu tun, die in der grossen Sikh-Diaspora in Kanada breiten Rückhalt hat. Delhi betrachtet die militanten Separatisten als Terroristen und fordert ihre Auslieferung. Als vergangenes Jahr ein Sikh-Führer in Kanada ermordet wurde, warf die Regierung in Ottawa dem indischen Geheimdienst vor, hinter der Tat zu stecken. Der Streit belastet seither das Verhältnis und führte Mitte Oktober zur gegenseitigen Ausweisung der Botschafter.

Die Idee von Khalistan kam in den Jahren vor der Unabhängigkeit 1947 auf, als die britische Kolonie entlang religiöser Linien in Indien und Pakistan geteilt wurde. Wenn die Muslime mit Pakistan einen eigenen Staat erhielten, warum sollten dann nicht auch sie im Punjab einen Staat bekommen, fragten viele Sikhs. Der Konflikt wurde zwar 1966 entschärft, als die Zentralregierung den Status der Region Punjab aufwertete, doch stellte dies nicht alle Sikhs zufrieden.

In den siebziger Jahren gewann die Khalistan-Idee erneut Zulauf, als der ländlich geprägte Punjab infolge der Agrarreformen der «Grünen Revolution» in eine Krise geriet. Durch mehr Bewässerung, mehr Kunstdünger und die Mechanisierung der Landwirtschaft sollten die Erträge gesteigert werden. In dem veränderten Marktumfeld waren viele Kleinbauern im Punjab aber nicht länger konkurrenzfähig und mussten auf der Suche nach Arbeit in die Städte oder ins Ausland ziehen.

Gerade unter der Jugend in den Städten führte die Krise zur Ausbreitung von Drogen und zum Anstieg der Kriminalität. Viele Sikhs fürchteten den Verlust ihrer religiösen und kulturellen Identität. In dieser Situation wurde Jarnail Singh Bhindranwale zur Stimme der Unzufriedenen. Der charismatische, feurige Prediger Anfang 30 rief die Jugend auf, Alkohol, Tabak und Pornografie abzuschwören. Die Männer drängte er, die äusseren Merkmal des Glaubens wie Bart und Turban zu tragen und sich auf die Traditionen der Sikhs zu besinnen.

Bhindranwale baute den Tempel zur Festung aus

Zunächst forderte Bhindranwale vor allem mehr Rechte für den Punjab und Reformen, um der sozialen Krise zu begegnen. Mit der Zeit radikalisierte sich seine Bewegung aber und begann sich zu bewaffnen. Um nach dem Mord an einem Journalisten seiner Festnahme zu entgehen, floh Bhindranwale 1982 in den Goldenen Tempel. Unter Anleitung früherer Offiziere, die sich der Bewegung angeschlossen hatten, liess er Waffen in den Tempel schmuggeln und baute den Akal Takht – den Sitz der obersten Sikh-Autorität – zur Festung aus.

Als die Armee am 1. Juni 1984 in dem weitläufigen Tempelkomplex vorrückte, geriet sie von umliegenden Gebäuden unter Beschuss und erlitt empfindliche Verluste. Erst nach tagelangen Kämpfen gelang es der Armee unter Einsatz von Panzern, den Tempel einzunehmen. Bhindranwale und seine Anhänger wurden getötet, doch auch Tausende unbeteiligte Pilger kamen im Kreuzfeuer ums Leben. Später wurde der Armee vorgeworfen, den Pilgern keine Chance gegeben zu haben, sich in Sicherheit zu bringen.

Wenn Gandhi gehofft hatte, mit der Operation der Agitation für einen Sikh-Staat ein Ende zu setzen, hatte sie sich verkalkuliert. Der brutale Einsatz, bei dem die wertvolle Bibliothek in Flammen aufging und der Tempel schwer beschädigt wurde, brachte auch viele moderate Sikhs gegen die Regierung auf. Er kostete nicht nur Gandhi das Leben, sondern fachte auch den Aufstand im Punjab erst richtig an. Bis 1995 fielen Tausende Menschen den Anschlägen militanter Sikhs und der Repression des Staates zum Opfer.

Gandhi wusste um die Gefahr für ihr Leben

Heute ist der Bungalow, in dessen Garten Gandhi ermordet wurde, ein Museum. Das einstöckige, strahlend weiss gestrichene Haus von 1926 ist typisch für das Regierungsviertel in Delhi. An den Wänden hängen Fotos der jungen Indira mit ihrem Vater Jawaharlal Nehru – Indiens erstem Premierminister. Andere Bilder zeigen sie mit ihren Söhnen Sanjay und Rajiv, der nach ihrem Tod Regierungschef wurde. Auch ihre Enkel Rahul und Priyanka sind als Kinder mit Indira Gandhi zu sehen. Heute führen sie in vierter Generation die Kongress-Partei.

Noch immer kommen täglich Leute, um den braunen Sari zu sehen, in dem Gandhi erschossen wurde, und die Glasplatte über dem Wegstück zu betrachten, auf dem sie niederstürzte. Am Eingang des Museums prangt ein Zitat aus ihrer letzten Rede: «Ich habe ein langes Leben gelebt und bin stolz, es ganz im Dienste meines Volkes verbracht zu haben. Ich werde bis zu meinem letzten Atemzug dienen, und wenn ich sterbe, wird jeder Tropfen meines Blutes Indien stärken.»

Offensichtlich wusste Gandhi um die Gefahr für ihr Leben. Nach der Stürmung des Goldenen Tempels waren die Sikhs zunächst aus ihrer Leibgarde abgezogen worden, da es Zweifel an ihrer Loyalität gab. In der angespannten Stimmung wollte Gandhi aber den Eindruck vermeiden, dass sie die Sikhs unter Generalverdacht stelle. Sie veranlasste daher, dass Beant Singh und andere Sikhs in ihren Dienst zurückkehrten – mit fatalen Folgen für Gandhi und den Rest des Landes.

Die Mordbanden wurden angeleitet von Kongress-Politikern

Denn der Mord löste einen der schlimmsten Pogrome aus, die Indien bis heute erlebt hat. Als am Abend die Nachricht ihres Todes bekanntwurde, kam es vor dem Spital, in das Gandhi gebracht worden war, zu ersten Übergriffen auf Sikhs. Was sich in den folgenden Tagen in Delhi entfaltete, war allerdings weniger eine spontane Reaktion auf den Mord an der Premierministerin als ein geplantes Massaker an den Sikhs. Es wurde angeleitet von Politikern von Gandhis Kongress-Partei, während die Polizei tatenlos zuschaute oder den Mob unterstützte.

Der Journalist Pav Singh schildert in seinem Buch «1984: India’s Guilty Secret», wie der Mob unter dem Slogan «Blut für Blut» von Tür zu Tür ging, ausgerüstet mit offiziellen Adresslisten. Noch am Abend des 31. Oktober wurden Häuser von Sikhs systematisch mit einem S markiert. Oft kehrten die Mörder mehrfach zurück, um sicherzugehen, dass sie alle Sikhs erwischt hatten. Viele Mordbanden hatten Kerosin oder gar schnell brennbares Phosphorpulver dabei.

Laut Pav Singh gibt es Hinweise, dass die Massaker langfristig geplant waren. In der Kongress-Partei habe es schon länger die Forderung gegeben, «den aggressiven Sikhs eine Lehre zu erteilen». Der Mord an Gandhi war demnach nur der Anlass, nicht der Auslöser der Gewalt. Und ebenso plötzlich, wie sie begann, war sie am 4. November auch zu Ende. In den Tagen danach wurde das Ausmass der Gewalt verschleiert, viele Leichen ohne vorherige Erfassung durch die Behörden verbrannt.

Die Harmonie zwischen Hindus und Sikhs in Trilokpuri trügt

Das Viertel, in dem sich das grösste Massaker ereignete, war Trilokpuri. Das dicht bebaute, ärmliche Quartier im Osten Delhis erscheint heute wie ein typisches, religiös gemischtes Arbeiterviertel, in dem Hindus, Muslime und Sikhs Tür an Tür leben. An der Hauptstrasse steht ein schmucker, strahlend weisser Sikh-Tempel. Aus den Gassen dahinter erschallt der Gebetsruf einer nahen Moschee, während am Strassenrand Dekoration für das Hindu-Fest Diwali verkauft wird. Doch die Harmonie trügt. Es leben kaum noch Sikhs in Trilokpuri.

Der Tempel wurde gleich zu Beginn des Massakers am 1. November 1984 in Brand gesteckt. Anschliessend drang der bewaffnete, betrunkene Mob in Block 32 ein, wo die meisten Sikhs lebten. Augenzeugen berichteten später, als die Polizei eingetroffen sei, habe sie den Sikhs versichert, sie werde sie beschützen. Doch dann hätten die Polizisten den Sikhs die Waffen abgenommen, mit denen sie sich dem Mob entgegengestellt hätten, und sie wehrlos der Mordbande ausgeliefert.

Mehr als 350 Sikhs wurden in den folgenden drei Tagen in Trilokpuri ermordet, viele Männer bei lebendigem Leib verbrannt, zahllose Frauen vergewaltigt. Andernorts wurden Sikhs aus Autos gezerrt und aus Zügen geworfen. Das Zentrum der Gewalt war Delhi, doch gab es auch in vielen anderen Städten Massaker. Nach offizieller Zählung verloren in jenen ersten vier Novembertagen allein in Delhi 2733 Menschen ihr Leben, die Opferzahlen in ganz Indien lagen um ein Vielfaches höher.

Das Mahnmal für die Sikhs ist eine einzige Anklage

Während Indira Gandhi längst ein Museum zu ihrem Gedenken hat, gibt es bis heute keine staatliche Gedenkstätte für die Tausende von Opfern der Massaker von 1984. Frustriert über die Untätigkeit der Politik, ergriffen die Sikhs letztlich selbst die Initiative und weihten 2017 ein eigenes Mahnmal ein. Die «Mauer der Wahrheit», die auch als «Sikh Genocide Memorial» bekannt ist, steht auf dem Grundstück eines Sikh-Tempels direkt neben der Zufahrt zum Parlament in Delhi.

Die Tafel am Eingang ist eine einzige Anklage: «Die Mitglieder und Anhänger der Partei an der Macht haben mit der Beihilfe, Duldung und aktiven Unterstützung des Staatsapparats beispiellose Massaker an Tausenden unschuldigen Sikhs begangen, unter ihnen Frauen, Alte und Kinder», heisst es dort. Der wilde Mordrausch, die Plünderung und Brandschatzung hätten das Vertrauen nicht nur der Sikhs, sondern aller Minderheiten in die säkulare Ordnung des Staats erschüttert.

Unter den Sikhs haben die Pogrome von November 1984 ein tiefes Trauma hinterlassen. Der Aufstand im Punjab ist zwar abgeklungen. Alle grossen Sikh-Parteien bekennen sich heute zum demokratischen Prozess. Die Khalistan-Bewegung findet primär noch in der Diaspora Zuspruch. Doch Probleme wie die Agrarkrise und die Abwanderung, die vor vierzig Jahren den Separatisten im Punjab Auftrieb gaben, sind ungelöst. Und da die meisten Täter von 1984 nie verurteilt worden sind, warten die Opfer noch immer auf Gerechtigkeit.

Exit mobile version