Sonntag, Dezember 22

Die Konstruktion dieses Gewächshauses war epochal. Plötzlich waren die Tropen weit weg vom Äquator erlebbar. Nun schliesst das Glashaus bald wegen Renovierung. Also, schnell hin, denn der Besuch ist ein besonderes Erlebnis.

Man hält den Messingknauf der schweren Glastür noch in der Hand, wenn schwülwarme Luft einem unvermittelt den Atem verschlägt. In Bruchteilen von Sekunden beschlägt die Brille, und jeder Gedanke ist darauf fokussiert, sich schnellstmöglich des warmen Mantels zu entledigen. Dann, langsam, nimmt man das vielschichtige, scheinbar endlos hohe Blätterdach über sich wahr. Wassertropfen perlen von riesigen Palmwedeln, der Geruch von feuchter Erde mischt sich mit unbekannten Aromen, und man wähnt sich nicht mehr am Stadtrand von London, sondern im tropischen Regenwald.

Das Palm House in den Kew Gardens ist ein Gewächshaus, aber nicht irgendeins. In diesem Gebäude wurde erstmals tropische Vegetation weit weg vom Äquator für die breite Öffentlichkeit erlebbar gemacht. Zuvor hatten solche Symbole der technologischen Beherrschung der Natur nur im Besitz besonders wohlsituierter Mitglieder der Aristokratie existiert.

Um diese epochale Änderung zu ermöglichen, mussten eine Reihe von Faktoren zusammenkommen. Einer war die (relative) Geldnot der jungen Königin Victoria. Um die Finanzierung anderer Projekte sicherzustellen, willigte sie ein, den botanischen Garten in die öffentliche Hand zu übertragen.

Fast 19 Meter hoch und 110 Meter lang

In Grossbritannien war das Parlament ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts mächtiger als das Königshaus. Es verwaltete immense Reichtümer, die aus dem gigantischen Kolonialreich nach London flossen. Exotische Pflanzen waren ein nicht unwesentlicher Teil dessen, denn der grossflächige Anbau, beispielsweise von Tee, war äusserst profitabel. Die Regierung sah den botanischen Garten in Kew nun als Umschlagplatz für weltweit neu entdeckte Pflanzen. Die vorhandenen Gewächshäuser reichten dafür jedoch nicht aus, ein neues wurde gebraucht.

Dieses sollte nicht nur funktional, sondern auch repräsentativ sein, denn man wollte den kolonialen Erfolg der Nation feiern. Ein Besuch in dem neuen Glashaus sollte ein Genuss werden für jede Bürgerin und für jeden Bürger. Das war revolutionär, auch wenn die ärmsten Schichten der Bevölkerung weiterhin ausgeschlossen blieben, denn nur ordentlich gekleideten Personen wurde Einlass gewährt.

Das Design des bekannten Architekten Decimus Burton war von riesiger Dimension. Fast 19 Meter hoch und 110 Meter lang sollte der gläserne Palast werden. So etwas hatte noch niemand zu bauen gewagt. Um die Stabilität zu gewährleisten, sahen Burtons Pläne breite, gusseiserne Säulen vor.

Geht man heute durch das Palm House, so findet man jedoch nur filigrane Stützen zwischen den dicht wachsenden Pflanzen. Immer neue Blattformen fallen ins Auge. Zuweilen kontrastieren sie elegant mit dem Muster der schlanken Glasscheiben der Aussenhaut. Nie lenken die Konstruktionselemente ab von den unterschiedlichen Grüntönen und Texturen der Pflanzen. Die gläserne Hülle um diese üppige Vegetation hat eine fast unglaubliche Leichtigkeit. Hier zeigt sich der Einfluss des fast vergessenen, brillanten Ingenieurs Richard Turner.

Eigentlich baute er Schiffsrümpfe, die er mit schmalen, gebogenen Streben aus Schmiedeeisen stabilisierte. Warum nicht die gleiche Technik hier anwenden, dachte er sich. Es ist daher kein Zufall, dass die Form des Palm House von weitem an den umgedrehten Rumpf eines Schiffes erinnert.

Bei der Planung erwartete man, dass das Gebäude 100 Jahre halten würde. 176 Jahre steht es jetzt, ermöglicht durch periodische Restaurierungen. Eine solche ist nun wieder fällig, denn der Rost nagt pittoresk an der eisernen Konstruktion. Dieses Mal soll das denkmalgeschützte Gewächshaus gleichzeitig nachhaltiger werden, denn der CO2-Ausstoss ist immens. Schon die Konstrukteure stellten den Schornstein für die Heizanlage verschämt in einiger Entfernung auf. Wie die Verbesserung aussieht, die Kew nun plant, ist noch nicht veröffentlicht. Auch Angaben zum Beginn der Arbeiten werden noch unter Verschluss gehalten. Sicher ist eines, das Palm House wird lange geschlossen bleiben. Ein baldiger Besuch gehört daher ganz oben auf die Wunschliste für 2025.

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