Mittwoch, April 30

Schon lange weiss man, dass eine bestimmte Erbgutvariante das Risiko für Alzheimer erhöht. Eine neue Studie legt nun nahe, dass das Gen die Krankheit sogar auslöst.

Bei der Alzheimer-Krankheit war es bisher relativ übersichtlich. Es gab die sehr seltenen Fälle von vererbtem Alzheimer und die sehr häufigen sporadischen Alzheimer-Fälle. Bei den vererbten, familiären Formen der gefürchteten Demenz führen Mutationen in drei Genen praktisch immer – und das schon sehr früh im Leben der betroffenen Person – zum geistigen Zerfall. Beim sporadischen Alzheimer gibt es dagegen «nur» Risikogene. Diese begünstigen die viel später im Leben auftretende Demenzerkrankung mehr oder weniger stark – selber auslösen können sie die Krankheit aber nicht.

So hat man bis heute über Alzheimer gedacht. Dieses Verständnis haben spanische Forschende nun in einer am Montag in der Fachzeitschrift «Nature Medicine» veröffentlichten Arbeit über den Haufen geworfen. In ihrer Studie haben sie das wichtigste Alzheimer-Risikogen namens APOE unter die Lupe genommen. Dieses Gen kommt – wie auch das davon abhängige Genprodukt Apolipoprotein E – in verschiedenen Varianten vor. Die Variante vier (APOE4) erhöht das Demenzrisiko am stärksten – um bis zu 15 Mal.

Dabei spielt es eine Rolle, ob jemand das Risikogen nur von der Mutter oder vom Vater geerbt hat – oder gleich von beiden Eltern. Bei zwei Risikogenen im Erbgut spricht man von homozygoten APOE4-Trägern. Diese Personen entwickeln praktisch alle eine Alzheimer-Krankheit, wie Juan Fortea und seine Kolleginnen und Kollegen jetzt zeigen konnten. Zudem: Die Demenz entwickelt sich bei ihnen sieben bis zehn Jahre früher als bei Alzheimer-Patienten ohne diese genetische Konstellation.

Doppelte Gen-Belastung ist relativ häufig

Die Ergebnisse der Studie zeigen laut der Forschergruppe, dass die Anwesenheit von zwei APOE4-Genvarianten im Erbgut zu einer eigenständig vererbten Form von Alzheimer führt. Das heisst, dass zwei APOE4-Gene nicht nur das Erkrankungsrisiko erhöhen, sondern die Alzheimer-Demenz auch auslösen können.

Dies hat wichtige Implikationen. Denn etwa 2 Prozent der Bevölkerung tragen zwei APOE4-Varianten in ihrem Genom. Das macht die genetische Konstellation relativ häufig. Nach Schätzungen findet sie sich bei 15 Prozent der Alzheimer-Patienten – zumindest in unseren Breitengraden. Denn bei dieser Genvariante sind ethnische und geografische Unterschiede in der Häufigkeit bekannt.

Für ihre Beweisführung haben die spanischen Forschenden aus verschiedenen Alzheimer-Kohorten in Europa und den USA die klinischen, labormedizinischen und pathologischen Daten von mehr als 10 000 Menschen analysiert, darunter auch von 519 Personen mit doppelter APOE4-Belastung. Wie sich zeigte, liessen sich bei ihnen schon ab einem Alter von 55 Jahren verdächtige Laborwerte feststellen (Alzheimer-Biomarker). Ab 65 Jahren wiesen fast alle abnorme Werte für das Alzheimer-typische Protein Amyloid im Hirn-Nerven-Wasser auf, und bei 75 Prozent konnten im Gehirn Amyloid-Ablagerungen nachgewiesen werden.

Das Auftreten der Biomarker nahm mit steigendem Alter zu. Laut den spanischen Wissenschaftern bedeutet das, dass bei Personen mit zwei APOE4-Genen die Alzheimer-Krankheit praktisch immer im Verlauf des Lebens auftritt. Man spricht in diesem Fall auch von einer vollständigen Penetranz der problematischen Genvariante. Damit sei die Situation vergleichbar mit jener bei den bekannten, sehr seltenen vererbten Alzheimer-Formen, so die Forscher.

Noch keine Relevanz für die Früherkennung

Was aber bedeuten die neuen Erkenntnisse für die Diagnosestellung und Früherkennung der Alzheimer-Krankheit? Vom deutschen Science Media Center angefragte, unabhängige Fachleute äussern sich differenziert. Generell halten sie die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der spanischen Forschergruppe für gut nachvollziehbar. Sie sprechen auch von einem «bedeutenden Wissenszuwachs».

Dass APOE4 bisher nicht als kausales Alzheimer-Gen identifiziert wurde, dürfte laut den Experten damit zusammenhängen, dass diese Hypothese noch nie so konsequent untersucht wurde wie in der Studie aus Spanien. Zudem habe man die Einfach- und Doppelträger der Genvariante in den bisherigen Untersuchungen immer in einer gemeinsamen Gruppe analysiert. Das dürfte den Effekt der doppelten Genvariante verwässert haben.

Was laut den Fachleuten bei dem Thema aber noch offen ist, ist das Wie: Über welche molekularen und zellulären Mechanismen löst die doppelte Genvariante die Hirnerkrankung aus, die letztlich zur manifesten Demenz führt? Auf diese Frage gibt die neue Studie keine Antwort.

Bis heute wird die Bestimmung des APOE-Genotyps in der Routinediagnostik nicht empfohlen. Das dürfte vorderhand so bleiben. Der Alzheimer-Forscher Nicolai Franzmeier von der Ludwig-Maximilians-Universität München bringt es gegenüber dem Science Media Center so auf den Punkt: «Aktuell würde ich nicht empfehlen, sich auf APOE4 testen zu lassen, da daraus keine therapeutischen Konsequenzen resultieren. In der Zukunft kann eine APOE4-Genotypisierung aber sicherlich einmal relevant für die Früherkennung und Therapie werden, sofern wir es schaffen, vernünftige Behandlungsansätze zu entwickeln.»

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