Montag, September 30

Das Resultat ist vernichtend und die Ratlosigkeit im bürgerlichen Lager gross. Die Pensionskassen müssen ihre Probleme selbst lösen. Die SP sorgt mit neuen Vorstössen für Ärger im Bundeshaus.

Was für ein Fiasko. Die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaft wollten unbedingt vermeiden, dass die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) noch einmal so krachend scheitert wie im Jahr 2010. Damals hat das Volk über eine «nackte» Senkung des Umwandlungssatzes ohne Ausgleichsmassnahmen abgestimmt. Das Verdikt war brutal: 73 Prozent sagten Nein. Nun hat das Parlament mit grossem Aufwand in einem jahrelangen Prozess eine Vorlage mit milliardenschweren Kompensationen beschlossen. Und doch haben am Sonntag laut den jüngsten Hochrechnungen wieder etwa 68 Prozent Nein gesagt.

Die Ablehnung ist flächendeckend ausgefallen. In der Westschweiz war der Widerstand gegen die Pensionskassenreform besonders ausgeprägt, aber auch in der Deutschschweiz scheint in keinem einzigen Kanton eine Mehrheit für die Reform zustande zu kommen.

So deutlich das Resultat ist, so klar ist auch, dass die Probleme der zweiten Säule der Schweizerischen Altersvorsorge damit nicht gelöst sind. Wie wird es nun weitergehen? Zuerst vermutlich gar nicht. Darauf lassen Reaktionen aus fast allen Lagern schliessen. Es ist nach 2010 und 2017 bereits das dritte Mal, dass das Volk eine BVG-Reform ablehnt, die auf die Reduktion des gesetzlichen Umwandlungssatzes abzielte.

Triumph für die Linke

Dass der Bundesrat oder das Parlament in absehbarer Zeit einen neuen Anlauf nehmen werden, ist nicht zu erwarten. Vor allem von SVP und FDP kommen Signale, dass man keine Lust hat und auch keine Berechtigung sieht, nach der erneuten Ablehnung erneut in diese Richtung tätig zu werden. Vielmehr ist mit dem Szenario zu rechnen, das der Direktor des Pensionskassenverbands im Fall eines Neins befürchtet hatte: «Dann stellt sich die Grundsatzfrage, ob das gesetzliche Minimum im BVG überhaupt reformierbar ist.»

Aber was heisst das? Politisch sind die Folgen dieser Volksabstimmung über die Pensionskassen hinaus für die gesamte Altersvorsorge relevant. Die Gewerkschaften, die SP und die Grünen haben an diesem Sonntag in ihrem unermüdlichen Kampf für den Ausbau der AHV ein neues Argument dazugewonnen: Wann immer sich künftig die Frage stellen wird, ob man ein bestimmtes Anliegen via AHV oder BVG realisieren soll, können sie daran erinnern, dass Pensionskassenreformen an der Urne serienweise gebodigt worden sind.

Der erste Testfall wird wohl die Frauen betreffen: Manche bürgerliche Wortführer hatten vor der Erhöhung der Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre angekündigt, man werde im Gegenzug die Situation der Frauen in der zweiten Säule verbessern. Gesagt, getan: Mit der BVG-Reform wollte das Parlament Angestellte mit tieferen Löhnen, Teilzeitpensen und Mehrfachbeschäftigungen besser versichern. Das hätte primär Frauen betroffen. Dass nach dem Absturz der BVG-Vorlage aus dem linken Lager Vorstösse kommen werden, die Frauen über einen Ausbau der AHV besserzustellen, ist wohl eine Frage der Zeit.

«Das Blaue vom Himmel»

Die Alternative dazu wäre eine abgespeckte Variante der abgelehnten BVG-Reform: Sie würde nur jene Elemente umfassen, die auf einen Ausbau für tiefe Einkommen und Teilzeitpensen abzielten. Hingegen würde man den politisch explosiven Teil mit dem Umwandlungssatz weglassen. Doch eine solche Vorlage würde im bürgerlichen Lager und in grösseren Teilen der Wirtschaft, vor allem beim Gewerbe, auf Widerstand stossen.

Auch rein logisch liesse sich ein solches Vorhaben nicht leicht begründen. Nachdem man es zum wiederholten Mal nicht geschafft hat, für das gesetzliche BVG-Obligatorium eine saubere Finanzierung festzulegen, die ohne Quersubventionierungen auskommt, drängt es sich nicht auf, dieses Obligatorium jetzt auch noch auszubauen.

Auch Stimmen, die sich im Parlament zuvorderst für eine Besserstellung der Frauen eingesetzt haben, sehen die technischen Widersprüche einer solchen Lösung. Man könne die berufliche Vorsorge nur ausbauen, wenn man sie auch stabilisiere, sagt die GLP-Nationalrätin Melanie Mettler. «Der Handlungsbedarf bleibt, das heutige System ist ungerecht, aber das können wir erst ändern, wenn alle Seiten ernsthaft an einer Lösung interessiert sind und endlich aufhören, den Leuten mit völlig realitätsfremden Lösungen das Blaue vom Himmel herunter zu versprechen.»

Die Kritik richtet sich gegen die SP: Deren Bundeshausfraktion hat wenige Tage vor der Abstimmung mehrere Vorstösse für einen Ausbau des gesetzlichen BVG-Minimums eingereicht. Unter anderem verlangt sie Verbesserungen für Mehrfachbeschäftigte und Teilzeitarbeitende, die mit der Reform, zu deren Ablehnung sie aktiv beigetragen hat, erreicht worden wären.

Im Schatten der AHV

Unüberhörbar ist die Ratlosigkeit bei Mitte-Ständerat Erich Ettlin , der in den Diskussionen im Parlament eine zentrale Rolle spielte. Die Ablehnung sei nun derart deutlich ausgefallen, dass man sich sehr genau überlegen müsse, wie es weitergehen solle. «Aber ich sträube mich dagegen, jetzt einfach die Hände in den Schoss zu legen», sagt Ettlin. «Wir stehen als Gesetzgeber in der Verantwortung und können nicht einfach tatenlos hinnehmen, dass das BVG mit der Realität nicht mehr übereinstimmt.»

Auf Nachfrage räumt Ettlin aber ein, in den nächsten Jahren werde wohl wenig passieren. Die Pensionskassen werden im Schatten der AHV stehen, deren Finanzierung nur noch wenige Jahre gesichert ist – weil nun die grossen Babyboom-Jahrgänge sukzessive pensioniert werden, weil die Lebenserwartung weiter zunimmt und weil die AHV ab 2026 die 13. Rente auszahlen muss.

Werden die «Minimalkassen» aussterben?

In der Realität ausserhalb des Bundeshauses wird sich die zweite Säule weiter entwickeln, die Richtung ist laut vielen Fachleuten absehbar: Das gesetzliche Obligatorium wird wohl an Bedeutung verlieren, weil es mit der Realität nicht mehr viel zu tun hat. Weder bei der Lebenserwartung noch bei den Renditen hat das Gesetz mit der Wirklichkeit Schritt gehalten. Schon heute gibt es nicht mehr viele Pensionskassen, die Vorsorgepläne anbieten, die genau dem gesetzlichen Minimum entsprechen oder nur leicht darüber hinausgehen. Mittel- bis langfristig dürften sie komplett verschwinden.

Diese Kassen dürften gezwungen sein, stärker in den überobligatorischen Bereich auszuweichen. Das bedeutet in den meisten Fällen, dass sie freiwillig einen grösseren Teil des Einkommens versichern und höhere Lohnbeiträge erheben, als vom Gesetz vorgeschrieben. Oder sie ziehen für Risiken wie Invalidität überhöhte Beiträge ein, um die Renten auf diesem Weg querzufinanzieren.

Mit anderen Worten: Für die Pensionskassen und ihre Versicherten ist das Scheitern der Reform keine Katastrophe. Hingegen ist das gesetzliche Fundament der beruflichen Vorsorge weiterhin in Schieflage und dürfte es noch lange bleiben.

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