Mittwoch, September 17

Sie wuchs in China auf, lebte in Deutschland ein traditionelles Hausfrauenleben und erfüllte sich mit 56 Jahren einen Traum: einmal ein eigenes Buch schreiben. Nun wird die «Krimikönigin» 90 Jahre alt – und liefert noch immer Bestseller.

Mindestens zweimal in ihrem Leben war Ingrid Noll schlagartig eine Kuriosität. Zum ersten Mal geschah das 1949. In Europa wurden noch die Trümmer des Krieges weggeräumt, als die Familie Noll mit vier Kindern in flatternden Seidenkleidern aus China nach Deutschland zurückkehrte.

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Das zweite Mal geschah es 1991, als die Welt gerade wieder in eine neue Ordnung kam. Noll, nun eine Frau Mitte fünfzig, Arztgattin, Hausfrau und Mutter dreier erwachsener Kinder, hatte aus dem Stand einen internationalen Bestseller geschrieben. Zahlreiche weitere sollten folgen. Als der «Spiegel» fragte, was sie denn nun mit dem vielen Geld anfange, antwortete Noll wahrheitsgemäss: «Erst mal bei uns am Haus eine neue Dachrinne anbringen.»

Unterhaltung ist keine Sünde

«Wie ist denn das Wetter in der Schweiz?», will Ingrid Noll am Telefon wissen. Wechselhaft. «Wie bei uns», berichtet sie aus ihrem Haus im badischen Weinheim. Dem Haus, das vor 34 Jahren eine neue Dachrinne bekam. Der September ist ihr liebster Monat. Nicht mehr zu heiss, noch nicht zu kalt. Noll mag keine Extreme, sie mag den sanften Durchschnitt.

Es dürfte einer der Gründe sein, warum ihre Bücher schon sehr lange sehr viele, sehr verschiedene Menschen ansprechen. «Sie hat mich (wieder) zum Lesen gebracht», ist eine der häufigsten Reaktionen auf den Namen Noll.

In ihren mittlerweile 24 Romanen – der neuste, «Nachteule», erschien im August – finden sich keine Sätze, die so schön sind, dass man sie auf Kühlschrankmagnete oder Stofftaschen drucken möchte. Noll schreibt schlicht und schnörkellos, verweilt selten in Bildern und hält sich erst recht nicht mit Details auf. Stattdessen treibt sie den Plot voran. Denn Noll unterhält. «Und das ist keine Sünde», sagt sie am Telefon. «Shakespeare wollte das ganze Volk belustigen. Auch Goethe wollte unterhalten. Heute sind sie Klassiker.»

Den September mag Noll nicht nur wegen des Wetters. «Ich habe im September ja auch Geburtstag», sagt sie. In diesem Jahr ist es der 90.

Kindheit in China

Noll kam 1935 in Schanghai zur Welt. Der Vater arbeitete dort als Arzt, um Geld für eine eigene Praxis in Deutschland anzusparen. So sprach Noll mit zwei Jahren ausschliesslich Chinesisch – zum Ärger der Eltern, die das eigene Kind nicht verstanden. Sie entliessen das chinesische Kindermädchen und sorgten dafür, dass das Kind Deutsch lernte. «Man dachte damals halt relativ kolonial. Sprachen wie Chinesisch hatten in den Augen meiner Eltern keinen Wert.»

Die Noll-Kinder wuchsen in Nanking auf dem Land auf. Ein grosser Garten, viele Tiere. Nolls Haustier war eine Ziege namens Grete, mit der sie ihre Lieblingsgeschichte nachspielte: «Heidi». Manchmal sagte sie, die die Alpen noch nie gesehen hatte, zu den Eltern: «Ach, ich habe grosses Heimweh nach den Bergen!» Worauf Mutter und Vater herzlich lachten.

Tatsächlich grosses Heimweh hatten allerdings die Eltern selbst. 1938, als Noll drei Jahre alt war, kehrte die Familie für kurze Zeit nach Deutschland zurück, merkte aber bald, dass das Land sich zutiefst verändert hatte. Man habe der Familie aus China unmissverständlich zu verstehen gegeben, «dass Aufmucken schlecht war», sagt Noll. Und dass man sich mit den jüdischen Freunden von früher besser nicht mehr blicken lasse.

Das allerdings habe sich die Mutter nicht bieten lassen. «Ich lade in mein Haus ein, wen ich will», habe sie gesagt. Noll klingt stolz, wenn sie davon erzählt. Kurz vor Kriegsbeginn kehrte die Familie Noll nach China zurück.

Ein zerstörtes Land

Eines Abends kam der Vater aus der deutschen Botschaft nach Hause und verkündete mit ernster Stimme: «Der Krieg ist aus.» Und Noll, zehn Jahre alt, ohne echten Bezug zu diesem fernen Deutschland, fragte munter zurück: «Na, gewonnen oder verloren?» Als wäre es eine Partie Schach.

Erst vier Jahre später sollte Deutschland für sie wieder an Bedeutung gewinnen. In Doktor Nolls Patientenkartei standen ranghohe chinesische Regierungsmitarbeiter und viele Mitglieder der reichen chinesischen Oberschicht. Mit den Kommunisten dagegen stand man schlecht. Kurz bevor Mao Zedong am 1. Oktober 1949 auf dem Tiananmen-Platz in Peking die Volksrepublik China proklamierte, packten die Nolls erneut die Koffer.

Ingrid Noll, zweitältestes Kind und älteste Tochter, wusste aus ihren Büchern ganz genau, was sie in Deutschland erwartete: Fachwerkhäuser, Kuckucksuhren, Dirndl und Schwarzwälder Kirschtorte. «Stattdessen kamen wir in ein zerstörtes Land.» Die Mahlzeiten vom hauseigenen Koch wurden gegen stets zu knappe Lebensmittelmarken eingetauscht, und die bunten Seidenkleider vom Schneider hoben sich beinahe grotesk von den Schürzen und groben Trainingshosen ab, die Nolls neue Klassenkameradinnen trugen. «Wir waren Ausserirdische», sagt Noll über diese Rückkehr in ein Land, das sie Heimat nannte, obwohl es sich wie ein anderer Planet anfühlte.

Die verpasste Geschichte

Politik war in der Familie Noll kaum ein Thema. Nur eines sei stets klar gewesen: Nazis sind schlechte Menschen. Doch im Wortschatz der neuen Mitschülerinnen, in den deutschen Schulbüchern, in denen einzig die sehr problematischen Stellen geschwärzt worden waren, und in den Köpfen der Verwandten war der Nationalsozialismus allgegenwärtig.

Eine der Grossmütter sei eine glühende Hitler-Verehrerin gewesen, sagt Noll. «Davor allerdings verehrte sie den Kaiser und danach Bundeskanzler Adenauer. Sie war sehr obrigkeitsgläubig.» Von vielen Verwandten hat sie nie erfahren, wie sie es damals mit dem Nationalsozialismus gehalten hatten. «Von meinem Onkel weiss ich, dass er sich geschickt um alles herumgedrückt hat. Er war weder in der Partei noch im Krieg – aber auch nicht im Widerstand.»

Später fragte Noll sich manchmal, wie sie selbst sich verhalten hätte, wäre sie in Deutschland aufgewachsen. «Es gab für Kinder und Jugendliche ja verlockende Angebote. Freizeitprogramme und eingängige Lieder am Lagerfeuer. Ich wünsche mir, immun dagegen gewesen zu sein, aber ich kann es schlicht nicht sagen.»

«Weil du ein Mädchen bist»

Als sie die Schule abgeschlossen hatte, überlegte Noll, Ärztin zu werden. «Das Studium könntest du schaffen, du bist nicht doof», habe der Vater dazu gesagt. «Aber wenn man eine ernste Krankheit hat, dann geht man nicht zu einer Frau.» Er sei ein wunderbarer Mann gewesen, der Vater, «aber halt auch ein alter Macho», geprägt von seiner Zeit.

Einer Zeit, in der Nolls Bruder in seiner Freizeit machen durfte, was er wollte, während man bei den Töchtern genau schaute, wo und mit wem sie sich herumtrieben. Einer Zeit auch, in der Teenager ihren Männerbesuch um 22 Uhr nach Hause schicken mussten. «Denn dann fing die Sünde an», sagt Noll. Der «Kuppelparagraph» im deutschen Gesetzbuch setzte die Duldung von Männerbesuchen bei unverheirateten Frauen ab 22 Uhr unter Strafe. Aus Angst, die Nachbarn könnten Anzeige erstatten, hielten die Eltern Noll sich streng an diese Regel.

«Ich hatte schon als Mädchen erbitterte Diskussionen mit meinen Eltern, weil ich es ungerecht fand, dass sie meinem Bruder Dinge erlaubten, die sie mir verboten. Und den Grund, ‹weil du ein Mädchen bist›, fand ich halt nicht akzeptabel.»

Dass hinter den Verboten auch die Sorge steckte, eine der Töchter könnte viel zu früh und vom falschen Mann schwanger werden, wusste Noll nicht. «Wir Kinder wurden ja nicht aufgeklärt. Und wenn, dann nur mit finsteren Andeutungen.» Entsprechend überrascht war Noll auch, als sie Monat für Monat zu bluten begann.

Bei den eigenen Kindern, Noll und ihr Mann hatten drei, macht sie es anders. «Ich habe meinen Kindern von klein auf alle Fragen ehrlich beantwortet. So ehrlich, dass meine Tochter mir mit vier Jahren sagte: ‹Gibst du mir bitte Bescheid, wenn du und Papa euch nächstes Mal paaren wollt.› – ‹Warum?›, habe ich gefragt, und sie antwortete: ‹Ich will mal zugucken.› Ja, doch, unsere Kinder waren durchaus aufgeklärt.»

Krimis schreibt sie keine

Nolls Protagonistinnen sind meistens Frauen, die rebellieren. Die sich nach einem Leben in der zweiten Reihe endlich nehmen, wovon sie denken, dass es ihnen zusteht. Mal mehr, mal weniger blutrünstig. «Ich kann besser über Frauen schreiben, weil ich mich eher in sie einfühlen kann», sagt Noll. «Und am besten verstehe ich, wenn eine Frau ihre lange verdrängten Wünsche und Ziele endlich einmal durchsetzen will.»

Den einen, lange verdrängten Wunsch hat auch Noll sich selbst erfüllt. «Aber nicht mit Gewalt, wie meine Protagonistinnen, sondern sehr sanft.» Als die Kinder ausgezogen waren, verfügte sie erstmals über ein Zimmer für sich ganz allein. Was bereits Virginia Woolf gefordert hatte, wurde auch für Noll zum Wendepunkt.

Sie, die ein Erwachsenenleben lang unter Minderwertigkeitskomplexen gelitten hatte, weil sie als einziges der vier Geschwister ihr Studium abgebrochen hatte, begann zu schreiben. Kinderbücher erst, denn Lehrerin hatte sie einst werden wollen, und Kinder, nun, von ihnen hatte sie immerhin erfolgreich drei grossgezogen. Dann wurde sie mutiger, wollte einen Roman wagen.

«Ich dachte, ein Krimi sei einfach, der werde auch nicht so kritisch betrachtet, das könnte ich vielleicht eher versuchen.» Nur: Noll ist keine Krimileserin. Auch Polizeiarbeit interessiert sie nur marginal. So kommt es, dass die Frau, die sie in Deutschland «unsere Krimikönigin» nennen, die bei der Bonner Polizei Ehrenkommissarin und bei jener in Mannheim sogar Ehren-Kriminalhauptkommissarin ist, nach eigenem Ermessen noch nie einen Kriminalroman geschrieben hat.

Als allerdings ihr Debütroman, «Der Hahn ist tot», erschien, waren die Kritiker sich grösstenteils einig: Da interpretiert eine unbekannte Stimme das Genre des Kriminalromans ganz neu – anders und originell. «Dabei war das ja alles ein Versehen, weil ich einfach nicht wusste, wie man diese Gattung korrekt bedient.»

Um Leben und Tod

Mit dem ersten Roman, den ausser der Autorin und dem Verleger alle für einen Krimi hielten, stand Noll plötzlich im Rampenlicht. «Ich war nicht sehr selbstbewusst», sagt sie. Bei ihrem ersten Fernsehauftritt sei sie vor Angst fast gestorben.

Aber nach und nach habe sie gemerkt: «Es geht. Die nächsten Male hat es sich zwar noch immer angefühlt, als gehe es um Leben und Tod. Aber ich bin routinierter geworden, und das hat mich selbstbewusster gemacht.»

Irgendwann fiel auch der kleine Sprachfehler, für den Noll sich sehr lange geschämt hatte, nicht mehr ins Gewicht. «Ich lisple ein bisschen. Aber mein Verleger damals, Daniel Keel von Diogenes, sagte gleich am Anfang: ‹Wunderbar. Dann haben Sie bereits ein Alleinstellungsmerkmal.›»

«Er ist immer da»

Vor vier Jahren wurde Noll Witwe. Verlor den Mann, den sie als Schulmädchen auf dem Heimweg von der Tanzstunde kennengelernt hatte, zu der sie ein anderer eingeladen hatte. Ein anderer allerdings hatte nie eine Chance. Weil sie zusammen hätten reden und lachen können, sagt Noll. Und weil sie das Gleiche vom Leben gewollt hätten: eine Familie.

Nolls Ehemann war oft der Erste, der ihre Manuskripte las, und zusammen mit den Schwestern und Freundinnen war er es auch, der ihr Mut machte. «Die haben mich jetzt nicht gerade überschwänglich gelobt, aber sie meinten: ‹Du kannst das ruhig mal einem Verlag schicken.›» Das reichte. Als der erste Verlag, den Noll anfragte, sofort zusagte, war ihr Mann dennoch erst skeptisch, «am Ende aber sehr stolz».

Wenn die Sehnsucht gross wird, besucht Noll ihren Mann. Nicht auf dem Friedhof, zum Grab habe sie keinen Bezug, «da war er ja nie», aber in den Erinnerungen. «Er ist immer hier. In jedem Nagel, den er in diesem Haus eingeschlagen hat, in den Bildern, die er aufgehängt hat, und in allen Möbeln, die wir zusammen ausgesucht haben.»

Materialermüdung

Vor dem eigenen Tod fürchtet Noll sich nicht. Dem eigenen Alterungsprozess dagegen begegnet sie mit einem unwilligen Erstaunen. «Lange war die Sanduhr fast voll, und plötzlich läuft sie immer schneller ab», sagt sie. Dabei werde man ja nicht über Nacht alt, «die Materialermüdung kommt in Schüben».

Langes Laufen machen die Beine nicht mehr mit, die Augen sind schlecht, sie trägt ein Hörgerät, und manchmal klemme eine Gedächtnisschublade – «das ärgert mich wirklich». Neulich verwarf sie auch ihre Reisepläne für Georgien: «Ach, Ingrid», habe ihre langjährige Reisegefährtin gesagt, «dafür sind wir zwei doch zu alt.» Zu anders das Land, die Sprache, die medizinische Versorgung auch. Stattdessen flogen die beiden nach Madeira. Danach setzte Noll sich an den Schreibtisch und schrieb ihren nächsten Roman.

Ingrid Noll: Nachteule. Roman. Diogenes-Verlag, Zürich 2025. 304 S., Fr. 36.90.

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