Freitag, November 29

Präsident Trump wird Importzölle intensiv als Instrument nutzen. Es ist jedoch noch offen, welchem Zweck sie ultimativ dienen sollen. Zudem: Der Aktienmarkt im historischen Spiegel von hundert Jahren.

«Mein Lieblingswort in der englischen Sprache? Importzoll.»
Donald Trump, 45. und 47. Präsident der USA, am 15. Oktober 2024

Die Finanzmärkte mögen Donald Trump. So zumindest lassen sich die Signale interpretieren, die sie senden.

Der S&P 500 hat vor dem Thanksgiving-Wochenende marginal unter seinem Allzeithoch geschlossen. Der gleich gewichtete S&P 500 Equal Weight, der nicht von den schwergewichtigen «Magnificent Seven» dominiert wird, hat seit dem Wahltag vor etwas mehr als drei Wochen deutlich stärker zugelegt als sein nach Marktkapitalisierung gewichtetes Pendant.

Das bedeutet, die Hausse ist breiter geworden. Sie wird nicht mehr primär von Giganten wie Nvidia oder Microsoft getragen.

Der US-Markt ist auf bestem Weg dazu, das laufende Jahr mit einem Gewinn von rund 25% abzuschliessen. Es wäre das zweite Jahr in Folge mit einer Avance von mehr als 20%. Das ist in der Historie erst vier Mal vorgekommen, letztmals vor fast dreissig Jahren.

Amerika zeigt zudem Zeichen einer Beschleunigung der Konjunkturdynamik: Der Einkaufsmanagerindex (Purchasing Managers Index, PMI) des Dienstleistungssektors ist auf den höchsten Wert seit fast drei Jahren geklettert. Im Kontrast dazu ist der PMI des Dienstleistungssektors in der Eurozone unter 50 gesunken und zeigt eine Kontraktion an.

Deutschlands Wirtschaft findet nicht aus der Misere, während der politisch fragile Zustand Frankreichs an den Bondmärkten zunehmend Besorgnis auslöst.

Dass für die Weltwirtschaft – und damit für die globalen Finanzmärkte – ruppigere Zeiten beginnen, hat der künftige Präsident zu Beginn dieser Woche mit seiner Androhung neuer Zölle auf Importen aus Mexiko, Kanada und China klar gemacht. Auch Schweizer Unternehmen wären davon betroffen.

Es zeichnet sich ab, dass das Thema Handelsschranken die kommenden vier Jahre prägen wird. Und es ist nicht auszuschliessen, dass Trump den Grundstein für eine fundamentale Neuordnung des globalen Handels- und Finanzsystems legt. Wir widmen uns im dieswöchigen «Big Picture» diesem Thema. Zudem blicken wir auf knapp 100 Jahre Börsengeschichte.

Um diese Jahreszeit publizieren die Banken jeweils ihre Ausblicke für das kommende Jahr. In der Regel prognostizieren sie dabei jeweils den Aktienmärkten einen Gewinn im «mittleren bis hohen einstelligen Prozentbereich» sowie «erhöhte Volatilität».

Wieso? Weil jährliche Avancen im mittleren bis hohen einstelligen Prozentbereich historisch betrachtet im Durchschnitt normal sind, und weil man mit der Prognose erhöhter Volatilität ohnehin nie falsch liegen kann. Aber der Durchschnitt ist als Prognosebasis ziemlich nutzlos; es sind schon viele Menschen in Flüssen ertrunken, die im Durchschnitt einen halben Meter tief sind.

Das folgende Histogramm zeigt Ihnen die Performance des S&P 500 – für ihn liegen die längsten Datenreihen vor – in jedem der vergangenen 97 Jahre, gruppiert jeweils in Schritten von zehn Prozentpunkten:

Dabei fällt zunächst auf: Jahre mit einer Kursperformance im einstelligen Prozentbereich sind gar nicht so häufig. Nur gerade in 10 von 97 Jahren wurde dieser historische Durchschnittswert tatsächlich erreicht.

Zweitens fällt die Rechtslastigkeit der Verteilung auf: 30 von 97 Jahren endeten für den US-Aktienmarkt mit einem Verlust. In 67 Jahren resultierte dagegen ein Gewinn. Am häufigsten waren Jahre mit einer Kursperformance zwischen 10 und 20%, gefolgt von Jahren mit 20 bis 30% Kursgewinn. Das zeigt, wie wichtig es für Investoren ist, langfristig «dabei» zu sein.

Wie eingangs erwähnt, ist der S&P 500 gegenwärtig auf bestem Weg dazu, zwei Jahre in Folge mit einer Avance von mehr als 20% abzuschliessen. Das ist bislang erst vier Mal gelungen: 1927 und 1928; 1935 und 1936; 1954 und 1956; sowie 1995 und 1996.

Lässt sich aus dieser (statistisch viel zu kleinen Menge) ein Muster herauslesen, was den Aktienmarkt im Jahr 2025 erwarten könnte?

Schauen wir uns die vier Fälle an.

Fall Nr. 1: 1927 und 1928 waren zwei hervorragende Jahre (in der Grafik grün markiert), doch darauf folgte mit 1929 (rot) das Jahr mit dem grossen Wall Street Crash und einem Minus von 12%. Schlimmer noch: Mit 1930 und 1931 folgten im Rahmen der Grossen Depression zwei wahre anni horribiles:

Fall Nr. 2: 1935 und 1936 waren wiederum zwei Glanzjahre für die Börsen, doch 1937 erlitt der S&P 500 mit einem Minus von fast 39% einen der brutalsten Rückschläge seiner Geschichte:

Fall Nr. 3: Etwas glimpflicher verlief die Entwicklung nach den beiden Top-Jahren 1954 und 1955: Im Jahr 1956 schaffte der S&P 500 immerhin ein Plus von 2,6% – bevor er 1957 allerdings gut 14% einbüsste:

Fall Nr. 4: Letztmals schaffte der S&P 500 in den Jahren 1995/96 eine Doublette mit je mehr als 20% Performance. Und danach? Dann setzte sich der Boom ungebremst fort: 1997 (+31%), 1998 (+26,7%) und 1999 (+19,5%) waren weitere Glanzjahre in einer Hausse, die schliesslich mit dem Platzen der Dotcom-Blase nach der Jahrtausendwende endete:

Zwei hervorragende Jahre hintereinander müssen aus der historischen Erfahrung also nicht zwangsläufig bedeuten, dass es danach abwärts geht. Aber Investoren sollten hoffen, dass die Weltwirtschaft von heute mehr mit den 1990er- als mit den 1930er-Jahren zu tun hat.

Womit wir beim Thema Handelskrieg sind.

Es dauert noch fast zwei Monate, bis Donald Trump sein Amt antreten wird. Aber er stellt bereits klar, dass er auch künftig gerne Social Media nutzen wird, um politische Ideen zu verkünden. Die jüngsten Zolldrohungen hat er auf seinem Kurznachrichtendienst Truth Social ausgesprochen.

Die Errichtung von Handelsschranken ist mittlerweile die Normalität. Joe Biden hat die Importzölle gegen China, die sein Vorgänger Trump verhängt hatte, nie aufgehoben. Im Gegenteil; Biden hat den Konflikt mit China, vor allem im High-Tech-Bereich, deutlich verschärft.

Es erscheint aus heutiger Perspektive geradezu bizarr, dass die Regierung von Barack Obama vor wenig mehr als acht Jahren ein umfassendes Freihandelsabkommen mit zahlreichen asiatischen Volkswirtschaften – Trans-Pacific Partnership, TPP – abschliessen wollte. Es fühlt sich an, als wäre seit Obama wirtschaftspolitisch betrachtet ein Jahrhundert vergangen.

Es ist noch offen, welchen Zweck Trump in den kommenden vier Jahren mit Importzöllen verfolgen wird – wir befassen uns im nächsten Kapitel mit dieser Frage. Aber für die Frage, was Zölle für die Finanzmärkte bedeuten, liefert uns Trump zumindest eine Blaupause: Er hatte in seiner ersten Amtszeit den Handelskrieg mit China am 22. Januar 2018 begonnen, als er Importzölle auf Solarpanels und Waschmaschinen verhängte.

In den folgenden Monaten weitete er die Liste der mit Zöllen belegten Güter sukzessive aus. 2019 begannen Peking und Washington Verhandlungen, die am 15. Januar 2020 im sogenannten US-China Phase One Deal gipfelten, den Trump und Chinas Vizepremier Liu He im Weissen Haus unterzeichneten (während sich zur gleichen Zeit ein Virus aus Wuhan aufmachte, die Welt zu entdecken…).

Der Handelskrieg endete mit dem Phase One Deal zwar nicht, aber er wurde zumindest nicht mehr ausgeweitet. Wir können daher den Zeitraum vom 22. Januar 2018 bis zum 15. Januar 2020 – in den folgenden Grafiken rot markiert – benutzen, um zu erörtern, wie verschiedene Segmente der Finanzmärkte die handelspolitische Eskalationsspirale verarbeiteten.

Wir zeigen Ihnen die Erkenntnisse nachfolgend in acht Charts. Dazu ein Hinweis vorweg: Selbstredend dürfen die Preisentwicklungen nicht monokausal mit dem Handelskrieg erklärt werden. Unzählige weitere Faktoren wie das geldpolitische Umfeld und die Liquiditätsversorgung der Märkte beeinflussen die Preise.

Dennoch kann der «Trade War 1.0» einige Anhaltspunkte liefern, wie die Märkte damit umgegangen sind.

Zunächst der Aktienmarkt: Der S&P 500 erlitt im Januar 2018 unmittelbar nach der Ankündigung der ersten Zölle einen Einbruch, und er beendete das Jahr 2018 mit einem Minus von gut 6%, bevor er sich 2019 erholte. Über den gesamten Zeitraum des Handelskriegs, bis zum Phase One Deal, avancierte der US-Aktienmarkt insgesamt 16%.

Die Börsen in China kriegten die Tiraden aus Washington noch stärker zu spüren. Der Blue-Chip-Index CSI 300 büsste nach Ausbruch des Handelskrieges bis Ende 2018 mehr als 30% ein, bevor eine Erholung einsetzte. Über den gesamten Zeitraum resultierte ein Minus von 4,4%.

Der Stoxx Europe 600 Index der wichtigsten Aktien in Europa schloss die untersuchte Phase mit einem mageren Gewinn von 4,5% ab.

So viel zu den Aktienmärkten. Ein recht deutliches Bild zeigt sich an den Devisenmärkten. Der Dollar-Index, der den Greenback im handelsgewichteten Verhältnis zu Euro, Yen, Pfund, Kanada-Dollar, Schwedische Krone und Franken misst, zeigt während der Phase des Handelskrieges eine markante Aufwertung des Dollars von gut 8%:

Klar auch das Bild im Wechselkurs des Yuan: Chinas Valuta wertete sich in der untersuchten Zeit zum Dollar um mehr als 10% ab – womit ein Grossteil der Wirkung der amerikanischen Zölle über den Wechselkurs absorbiert wurde.

Die Rendite zehnjähriger Treasury Notes sank im untersuchten Zeitraum von knapp 2,8% auf 1,8%…

…während der Goldpreis eine Avance von fast 17% schaffte:

Und das bilaterale Handelsbilanzdefizit der USA mit China? Das veränderte sich kaum und belief sich auch in der Phase des Handelskrieges unter saisonalen Schwankungen um 30 Mrd. $ pro Monat:

So viel zum Blick in die Vergangenheit. Nun geht es um die nächsten vier Jahre. Und damit zur alles entscheidenden Frage.

Dass Trump während seiner nächsten Amtszeit intensiv mit dem Instrument der Importzölle arbeiten wird, ist so gut wie sicher. Im Wahlkampf bezeichnete er sie als sein Lieblingswort.

Allerdings ist eine fundamentale Frage noch offen, wie Louis-Vincent Gave von der Hongkonger Research-Boutique Gavekal in einem Kommentar treffend schreibt: «Sind Zölle für Trump ein Werkzeug, oder sind sie ein Ziel?»

Wir können die beiden möglichen Szenarien anhand von zwei Personen symbolisieren, die der künftige Präsident für sein Kabinett ernannt hat.

1. Scott Bessent – Zölle als Werkzeug

Die Ernennung des Hedge-Fund-Managers Scott Bessent für das Amt des Finanzministers wurde an Wallstreet und in traditionellen republikanischen Kreisen mit Erleichterung aufgenommen. Bessent ist ein Finanzmarkt-Profi. In öffentlichen Auftritten, Interviews sowie im Jahresbrief an die Kunden seines Hedge Funds Key Square sandte Bessent in den vergangenen Monaten eine weitgehend konsistente Botschaft: Importzölle sind ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck. Und der Zweck sei es, Deals aus den Verhandlungspartnern der USA herauszupressen (lesen Sie hier mehr dazu).

Dabei bringt Bessent durchaus auch sicherheits- und machtpolitische Interessen ins Spiel. Er teilt die Welt in drei Kreise – Grün, Gelb, Rot – auf. Länder, die den USA freundlich gesinnt sind, hätten die Aussicht, zum grünen Kreis zu gehören und einigermassen offene Handelsbeziehungen zu erhalten.

In diesem Szenario würde Washington das bestehende Welthandels- und Finanzsystem nicht über den Haufen werfen, sondern zum eigenen Vorteil reformieren. «Trotz seiner Schwächen wäre es ein grosser wirtschaftlicher und strategischer Fehler, das internationale Handelssystem aufzugeben. Stattdessen müssen die USA eine Politik verfolgen, die darauf abzielt, die Ursachen der Ungleichgewichte in der internationalen Wirtschaft zu korrigieren», schreibt Bessent in einem Gastkommentar für den «Economist».

Das zweite Szenario wäre dagegen deutlich düsterer.

2. Jamieson Greer – Zölle als Ziel (oder: zurück ins 19. Jahrhundert)

Am Dienstag hat Trump den Anwalt Jamieson Greer zu seinem Handelsbeauftragten (U.S. Trade Representative, USTR) nominiert. Greer war in der ersten Trump-Regierung Stabschef von Robert Lighthizer, dem damaligen USTR und Architekt des ersten Handelskrieges.

In einem Auftritt vor dem «U.S.-China Economic and Security Review»-Ausschuss des Kongresses im Mai dieses Jahres propagierte Greer eine strategische Abkopplung («strategic decoupling») von China. Zudem forderte er, Washington solle China den Status permanenter normaler Handelsbeziehungen (Permanent Normal Trade Relations) aberkennen, was automatisch deutlich höhere Handelshürden nach sich ziehen würde.

«In einigen Fällen werden die Bemühungen um eine strategische Abkopplung von China kurzfristig schmerzhaft sein. Die Kosten des Nichtstuns oder der Unterschätzung der von China ausgehenden Bedrohung sind jedoch weitaus höher», sagte Greer vor dem Ausschuss.

Die «Greer/Lighthizer»-Position begegnet dem grenzüberschreitenden Handel grundsätzlich mit einer ablehnenden Haltung. Sie sieht die Globalisierung der vergangenen rund vier Jahrzehnte als Ursache für den Niedergang des Industriestandortes USA und der daraus entstandenen sozialen Probleme wie der Opioid-Epidemie in Staaten des «Rostgürtels» wie Ohio oder West Virginia.

In diesem Szenario sind Zölle kein Werkzeug, sondern das Ziel: Sie sollen die amerikanische Wirtschaft permanent vor ausländischer Konkurrenz schützen und eine umfassende Re-Industrialisierung des Landes ermöglichen. Im Grunde knüpfen die Unterstützer dieser Linie an die Tradition der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert an, als sich das Land durch hohe Zollschranken vor ausländischer – primär britischer – Konkurrenz schützte.

Im Gegensatz zu «Zölle als Werkzeug» würde das «Zölle als Ziel»-Szenario eine viel umfassendere Abkehr der USA von ihrer Strategie der vergangenen Jahrzehnte bedeuten. Die letzte Orientierung nach Innen und Abkehr von der Welt vollzogen die USA in den 1930er-Jahren.

Welchen Weg wird Trump wählen?

Das wissen wir noch nicht. Es wird zu sehen sein, welche Kreise um den Präsidenten ideologisch die Oberhand gewinnen. Seine bisherigen Ankündigungen lassen derzeit noch einen transaktionalen Charakter – was der Bessent-Linie entspräche – durchblicken: Trump droht Zölle gegen Mexiko und Kanada an, sofern diese nicht die illegale Immigration ernsthaft bekämpfen. Und er spricht Zolldrohungen gegen China aus, sofern Peking nicht endlich die Lieferungen von Chemikalien zur Produktion der Droge Fentanyl unterbindet.

Die Tatsache, dass Robert Lighthizer offenbar keine offizielle Position in der Regierung erhält, kann nach aktuellem Wissensstand als Stärkung der Position von Bessent interpretiert werden.

Eine noch offene Frage ist, welchen Einfluss Vizepräsident J.D. Vance in wirtschaftspolitischen Fragen haben wird. Er dürfte der «Zölle als Ziel»-Linie näher stehen. Eine wichtige Figur im Umfeld von Vance, die man in diesem Zusammenhang im Auge behalten muss, ist der Politökonom Oren Cass vom konservativen Think Tank American Compass. In diesem höchst informativen Interview mit dem Onlinemagazin «UnHerd» gibt Cass Einblicke in die Positionen, die Vance vertritt:

Oren Cass: The philosophy of J.D. Vance

Die Antwort auf die Frage, welcher Position Trump am Ende mehr Gehör schenken wird, hat das Zeug dazu, das Gesicht der Weltwirtschaft in den kommenden Jahrzehnten entscheidend zu prägen. Wir werden uns in den nächsten Ausgaben des «Big Picture» noch eingehender mit Handelsthemen sowie der Frage beschäftigen, wie eine neue, von Trump geprägte Weltordnung aussehen könnte.

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