Mittwoch, Januar 15

Michael Regan / Uefa / Getty

Das Wembley-Stadion gehört allen. Den besten Fussballern der Welt genauso wie den Amateuren und den Pop-Stars.

Das Wembley-Stadion lässt sich guten Gewissens zu den Wahrzeichen Londons zählen. Auch wenn die ehrwürdige Spielstätte im Nordosten der britischen Millionenmetropole noch nicht von den weltbekannten roten Doppeldeckerbussen auf den Sightseeing-Touren angesteuert wird, gleicht ihr Status dem einer Sehenswürdigkeit. Die Bekanntheit des Stadions steht jener der anderen Touristenattraktionen in nichts nach, ebenso wenig wie seine Charakteristik.

Aus der Luft ist Wembley aufgrund der markanten Dachkonstruktion, an der ein 133 Meter hoher und 315 Meter langer Stahlbogen befestigt ist, genauso gut zu erkennen wie die Tower Bridge, das London Eye oder der Buckingham-Palast. Jeden Tag finden im Viertelstundentakt unterschiedlich exklusive Führungen durch das Innenleben der Arena statt, die Touristen können die Tribünen und Logen besichtigen und sich sogar am Ende selber wie die Stars auf dem Platz fühlen, wenn sie über Lautsprecher ins Stadion gerufen werden.

Wembley ist zu einer nationalen Kultstätte geworden und zugleich Heimat des englischen Fussballs. Das Stadion bedeutet den Briten so viel wie der Tennis-Centre-Court in Wimbledon oder die Motorsport-Rennstrecke in Silverstone. Für den Rest der Fussballwelt ist das fast religiös verehrte Wembley ein Traumziel. Jeder Funktionär, Spieler und Zuschauer möchte einmal im Leben mit eigenen Füssen den heilig gepflegten grünen Rasen betreten, über den der deutsche Ausnahmespieler Günter Netzer sagte: «Wer da nicht Fussball spielen kann, der wird es im Leben nie lernen.»

Alle waren da – ausser Pelé

Seine Faszination erhält Wembley durch die über hundertjährige Geschichte, die bis April 1923 zurückreicht, als es erstmals seine Tore öffnete. Seitdem werden quasi alle wichtigen Fussballmatches in England in diesem Stadion ausgetragen, die Länderspiele, die nationalen Cup-Finals und auch international bedeutende Turniere: die WM 1966, die EM 1996, acht EM-Spiele 2021, die Frauen-EM 2022 sowie acht Europacup-Finals – so viele wie in keiner sonstigen Spielstätte, darunter der diesjährige Champions-League-Final. Die Ereignisse haben das Profil des Stadions geschärft, und das Stadion prägte umgekehrt auch ein Stück weit die Ereignisse.

Den Ton gab gleich die erste Veranstaltung im Wembley an, das zu jener Zeit noch Empire Stadium hiess und erst später den Namen des umliegenden Vororts annahm. Fünf Tage nach der Fertigstellung besuchten offiziell 126 047 Zuschauer den Cup-Final zwischen den Bolton Wanderers und West Ham United, Schätzungen gehen allerdings eher von mindestens doppelt so vielen aus. Die Menschenmenge überstieg das Fassungsvermögen gewaltig und führte beinahe zur Absage des Matches.

Um die schon auf dem Platz stehenden Massen zurückzudrängen, wurden Reiterstaffeln eingesetzt. Mit Verspätung konnte das Spiel doch noch beginnen und ging als «The White Horse Final» in die Annalen ein – in Anlehnung an ein Pferd namens Billie, dessen Erscheinung in Erinnerung blieb. Ebenso wie der Bolton-Stürmer Ted Vizard, der sich bei der Ausführung der Ecken an die unmittelbar am Spielfeldrand stehenden Fans lehnte und sie bat, ihm einen Schubs zu geben, damit er den Ball halbwegs schwungvoll schiessen konnte.

Von da an schrieb sich der Mythos der Spielstätte fort, vom Wembley-Tor bis hin zum Golden Goal. Unter dem Begriff «Wembley-Tor» wird der Lattentreffer des Engländers Geoff Hurst im 1966er WM-Final verstanden, bei dem der Ball anschliessend senkrecht nach unten sprang. Obwohl der Ball die Torlinie wahrscheinlich nicht vollständig überquert hatte, wurde die Aktion als Tor zum 3:2 in der Verlängerung gegen Deutschland gewertet. In der letzten Minute schoss der Dreifachtorschütze Geoff Hurst das Mutterland des Fussballs endgültig mit dem 4:2 zum ersten und bis heute einzigen Titel.

In diesem Augenblick fielen die wohl berühmtesten Worte, die im Wembley gesprochen wurden: «Some people are on the pitch, they think it’s all over . . .», sprach der BBC-Kommentator Kenneth Wo­lstenholme, weil jubelnde Engländer vor dem Abpfiff bereits auf den Platz stürmten, ehe er, nach dem vierten Tor, dann vollendete: «. . . it is now!» – «Einige Leute denken, es sei vorbei – jetzt ist es das.»

Das Spiel wirkte wie die Geburtsstunde der Fussballrivalität zwischen England und Deutschland, durchweg scheiterten die Engländer danach in den K.-o.-Spielen an den Deutschen, meistens im Penaltyschiessen, so wie im Halbfinal der 1996er EM. Englands heutiger Nationaltrainer Gareth Southgate drosch den Ball in den Himmel über Wembley, und Deutschlands Oliver Bierhoff erzielte in der Verlängerung des Finals das neu eingeführte goldene Tor, mit dem eine Partie damals sofort entschieden war. Den Fluch überwanden die Engländer erst im EM-Achtelfinal 2021, 2:0 gegen Deutschland, der Match fand, natürlich, im Wembley statt.

Das Stadion bereitete die Bühne für die besten Fussballer, und nahezu alle fanden mit ihren Mannschaften den Weg dahin: Ferenc Puskás, Alfredo Di Stéfano, Johan Cruyff, Franz Beckenbauer, Diego Maradona, Zinédine Zidane, David Beckham, Lionel Messi und Cristiano Ronaldo. Die Gästeliste gleicht einem Who is Who des Spiels, so dass es schon wieder eine Besonderheit ist, dass sich für den grossen Pelé nie ein Besuch ergab – weder mit der Nationalelf Brasiliens noch mit seinen Klubs. Er hält die Lücke für sein grösstes Versäumnis.

Trotz der Star-Dichte ist Wembley immerzu ein Stadion für jedermann geblieben, darin liegt das Geheimnis seiner Beliebtheit. Seit Jahrzehnten finden dort zum Saisonende die Aufstiegs-Play-offs der unteren englischen Spielklassen statt, die Partien sind meist ausverkauft und haben eine Tradition auf der Insel wie der Boxing-Day-Spieltag. Sie sind der Höhepunkt für viele Fussballer, die es nicht in die Premier League schaffen. Sogar das Entscheidungsspiel der Amateurklubs um den letzten freien Platz im Profifussball steigt jedes Jahr in diesem Stadion.

Konzerte, Skispringen und der Papst

Im Vergleich zu den konkurrierenden historischen Fussballstätten wie dem Maracanã (Rio de Janeiro), dem Aztekenstadion (Mexiko-Stadt) oder dem Estadio Bernabéu (Madrid) hat sich Wembley immer durch die Aufführungen abgehoben, die über den Fussball hinausgingen. Sie begeisterten auch nicht-sportinteressierte Menschen. Die Events wirken wie ein Abriss der Zeitgeschichte: Olympische Spiele (1948), Skisprung-Wettbewerb (1961), Motorrad-Stuntshow von Evel Knievel (1975), Messe mit Papst Johannes Paul II. (1982), «Bad»-Tour von Michael Jackson (1988) und zahlreiche Wohltätigkeitskonzerte. Am stärksten im Gedächtnis verankert ist die Live-Aid-Veranstaltung (1985), an der die seinerzeit populärsten Bands zugunsten der Bekämpfung der afrikanischen Hungersnot gemeinsam auftraten.

Relevant ist Wembley durch die kontinuierlichen Renovierungen geblieben und letztlich durch den kompletten Neubau an ein und derselben Stelle. 2002 riss Englands Football Association das alte Stadion mit den ikonischen Zwillingstürmen am Eingang ab und baute es bis 2007 für rund eine Milliarde Euro wieder auf. Das nun ungefähr 90 000 Zuschauer fassende Stadion ist eine Multifunktionsarena, die den modernsten Standards entspricht.

Zwar macht die Kommerzialisierung auch nicht vor Wembley halt, aber sie trägt zumindest dazu bei, dass das Stadion regelmässig ausgelastet ist und sich die Instandhaltungskosten einigermassen refinanzieren. Im vergangenen Jahr kamen über zwei Millionen Menschen ins englische Nationalstadion, obwohl kein Klub dort seine Heimspiele austrägt. Kaum eine andere Arena in Europa bietet derzeit ähnliches Vermarktungspotenzial.

In seiner Historie hat Wembley fast alles gesehen und erlebt, mehr als das jeder Mensch könnte. Und das dürfte auch in Zukunft so bleiben: Der Final der Fussball-EM 2028 wurde bereits an das Wembley-Stadion vergeben.

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version