Sonntag, November 17

Der Universalgelehrte Dieter Borchmeyer präsentiert eine musikliterarische Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte.

Wer war Laokoon? Ein Priester aus Troja entweder des Lichtgottes Apollo oder Poseidons. Allzu Genaues weiss man nicht. Eine Version seines Schicksals besagt, dass die Götter ihn straften, indem sie ihm todbringende Schlangen schickten, weil er sich mit seiner Frau in deren Tempel vergnügt hatte.

Eine andere Version, Vergil überlieferte oder konstruierte sie in seinem Epos «Aeneis», sieht ihn als den Einzigen, der die Täuschung durch das Trojanische Pferd durchschaut hat und dafür mit seinen Söhnen von den Trojern bestraft wurde. Denn diese glaubten, er habe das edle Geschenk der Griechen dadurch entweiht, dass er einen Speer auf das Pferd geworfen habe.

Laokoon lebte fort in einer antiken, von unbekannter Hand geschaffenen römischen Marmorskulptur. 1506 wurde sie aufgefunden, seither kann man sie in den Vatikanischen Museen in Rom bestaunen. Bis heute hat die Laokoon-Gruppe zu den unterschiedlichsten Theorien zur Kunst angeregt. Die grössten Geister, übrigens nahezu ausschliesslich deutschsprachiger Herkunft, haben sie von ihr abgeleitet.

Dieses auffallend deutsche Interesse an Laokoon und der damit verbundenen Frage nach der Natur der Künste – es reicht von Lessing über Herder und Goethe bis zu Peter Weiss – hat jüngst nun Dieter Borchmeyer zum Anlass einer weiteren Untersuchung genommen. Gerade auch als Autor der umfassend angelegten Studie «Was ist deutsch?» versteht er sich darauf, diese sehr deutschen Debatten über Laokoon in neue Kontexte zu stellen. Exemplarisch führt er damit ihre transnationale Gültigkeit für die Auseinandersetzung über die Charakteristika der Künste vor.

Vergegenwärtigungen

Gerade dem Musikliteraten Borchmeyer bot es sich an, diese seine subtilen Untersuchungen zur Laokoon-Diskussion seit Lessings grundlegender Schrift «Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie» (1766) in Form von acht Variationen zu präsentieren. Dabei spielen für ihn die Zeitwerte in den Künsten und die Zeithaltigkeit ihrer Hervorbringungen eine zentrale Rolle, um sich den jeweiligen genrebedingten Umgang mit der Zeit und ihrer Kristallisation im Augenblick zu verdeutlichen. Und alles Verdeutlichen ist nun einmal ein Vergegenwärtigen.

Lessings «Laokoon» verstand sich als eine prinzipielle Aufklärung über die Möglichkeiten der jeweiligen Künste, wobei er die Musik zunächst sträflich behandelt hatte. Das änderte sich erst in einer von Lessings letzten Notizen für eine geplante Überarbeitung der «Laokoon»-Schrift. Diese Notiz, eher eine Abhandlung en miniature, enthält viel Überraschendes, insbesondere Lessings These, dass sich in der Tanzkunst Musik und Poesie vereinigen. Damit spielte er mittelbar auf die Bedeutung des Rhythmus an, entwickelte aber auch eher beiläufig eine ästhetische Zeichentheorie. Lessing als Semiotiker der Künste – zu Recht betont Borchmeyer diesen bislang eher vernachlässigten Aspekt.

Der fundamentalästhetischen Ausführungen sind viele in Borchmeyers «Laokoon» wie auch in seinem umfangreichen Sammelwerk zu den Wechselverhältnissen zwischen Musik und Literatur. Eine solche bietet etwa in Letzterem das Kapitel «Richard Wagners Mozart – Parallelismus im Gegensatz». Es nimmt Wagners späte, gegenüber Cosima vielleicht auch zu ihrer gelinden Verwunderung geäusserte These ernst, die da lautete: «Ich bin der letzte Mozartianer.»

Mit einem Kabinettstück führt Borchmeyer überzeugend den Nachweis, dass Wagners Anspruch ihre volle Berechtigung hatte. Er verweist auf dessen Aufsatz «Künstler und Kritiker» (1846), in dem der für seine Mozart-Dirigate kritisierte Wagner seinen Kritikern «mangelnde Sensibilität gegenüber der Partitur und Unbekümmertheit um die Aufführungsgepflogenheiten zur Zeit Mozarts» vorwirft. Man könnte somit behaupten, Wagner habe sich um Authentizität in der Interpretation Mozarts bemüht und damit um ein angemessenes Zeitverständnis für dessen Kunst und ihre Wiedergabe.

Mit «Thema und Variationen» hatte einst Bruno Walter seine «Erinnerungen und Gedanken» (1947) betitelt, und man muss schon in diese Höhen greifen, um Borchmeyers komplexem Ansatz annähernd gerecht zu werden. Sein Thema ist klar umrissen; in beiden hier in Rede stehenden Büchern, seinem «Laokoon» (denn er ist durch diese Studien auch zu dem seinen geworden) und den «wiederholten Spiegelungen» von Musik und Literatur, glücklich eingefangen in Goethes Wort vom «Strahl zugleich von zwei Sonnen», dreht sich vieles, wenn nicht alles, um den Weg, den die Künste in der Moderne bis zur Aufhebung ihrer Grenzen zurückgelegt haben. Ausgehend von der romantischen Ästhetik, die in Friedrich Schlegels Konzeption einer «progressiven Universalpoesie» ihren Nenner gefunden hatte, versteht es Borchmeyer in gedanklich wie sprachlich kunstreicher Form, die Grenzen zwischen den Künsten und damit auch den Begriff der Grenze in der Kunst an sich zu problematisieren.

Das denkende Auge

Zwei weitere Themen, beileibe keine Nebenstränge, sondern Hauptlinien, lassen sich in beiden Büchern zudem erkennen: die Raumwerdung der Zeit in den modernen Künsten und das Phänomen des Augenblicks. Ersteres löst das Rätselwort von Gurnemanz in Richard Wagners «Parsifal» ein: «Zum Raum wird hier die Zeit.» Zum anderen zeigt sich im Verhältnis zum Augenblick und zu dessen Gestaltwerdung im Kunstakt die Richtigkeit einer Bemerkung Carl Friedrich von Weizsäckers über Goethe. Dieser habe, so der Physiker, in seiner «Farbenlehre» «denkenden Auges» gesehen. Dem wiederum entspricht, was Nietzsche über Wagner befand; dieser nämlich sei mit einem sehenden Gehör ausgestattet gewesen.

Die «wiederholten Spiegelungen», so wie sie Borchmeyer von Goethe borgt und auf das Verhältnis von Musik und Literatur anwendet, haben ihrerseits etwas von Variationen. Und so liest sich seine musikliterarische Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte, wie sie nun in diesem Band mit deutlichen Akzentsetzungen auf Mozarts Opernbühne, die Weimarer Klassik, die Romantik Clemens Brentanos und Franz Schuberts sowie auf das gesamtkünstlerische Schaffen Richard Wagners vorliegt, wie ein Meisterkurs in variationenfreudiger Finde- und Deutungskunst.

Oft sind es auch gerade die kleineren Texte, die diese Kunst in voller Blüte zeigen. Um nur ein Beispiel von vielen zu nehmen: Wer hat vor Borchmeyer so deutlich uns vor Augen geführt, dass Nietzsche in seiner späten Wagner-Kritik «merkwürdig oft» von dessen «Blick» spricht, belegt etwa durch diese Stelle, an der Nietzsche feststellt, Wagners Werk sei «voll von Blicken, Zärtlichkeiten und Trostworten»; er habe «den scheuen Blick des verhehlten Schmerzes, des Verstehens ohne Trost, des Abschiednehmens ohne Geständniss». Und das in einer Schrift, die sich anschickte, sich gegen Wagner zu positionieren!

Borchmeyer schliesst, ganz und gar nachvollziehbar: «Wagner ist vielleicht der grösste Beschwörer des Augen-Blicks (in der Doppelsinnigkeit eines der schönsten Wörter der deutschen Sprache) in der Geschichte der Künste.» Mehr noch: «Wagners Poetik des Blicks ist eine Poetik des Mitleids!» Das überrascht, lässt dankbar aufhorchen ebenso wie das Qualitätsurteil über das Wort «Augenblick».

Dem gleichgestellt ist eine weitere zentrale Nebenbemerkung Borchmeyers, wenn er von Johann Gottfried Herder als einem «Querdenker» in seiner Zeit spricht und diese treffende Bemerkung mit einer Fussnote versieht, die pointierter nicht sein könnte: «Das schöne Wort Querdenker sollte man sich durch die neue reaktionär-rechte Bewegung dieses Namens nicht verunglimpfen lassen.» Man möchte ausrufen: Wie wahr!

Sprachgewinn und Sprachverlust

Wiederholt beruft sich Borchmeyer auf Dagobert Freys Studie von 1929, «Gotik und Renaissance als Grundlagen der modernen Weltanschauung», weil sie als erste den Paradigmenwechsel im Verständnis von Zeit und Raum in den bildenden Künsten dargestellt hat. Die Zentralperspektive der Renaissance erlaubte eine von Gleichzeitigkeiten bestimmte Bildauffassung, was dann auch in der Musik durch die Akkordharmonik zu der entscheidenden Weiterentwicklung des klanglichen Ausdrucks führte.

Das bringt uns zu einem für Borchmeyer nicht minder wichtigen Phänomen, das mit der Interpretation des Laokoon verbunden ist: Hören wir beim Betrachten der Skulptur gleichzeitig Laokoons Schrei, oder gewahren wir sein Verstummen? Hilfreich bezieht sich Borchmeyer hier auf Peter Weiss’ Rede zur Entgegennahme des Lessing-Preises: «Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache» (1965). Darin lenkt Weiss den Blick auf die beiden Söhne zur Rechten und Linken Laokoons, wobei er bemerkt, dass der jüngere in seiner «letzten Anstrengung vor dem Ermatten» gezeigt zu sein scheint. Der ältere dagegen gehört noch einer belebten Welt an, er bricht sich aus dem Statuarischen heraus, um denen, die ihm vielleicht zu Hilfe kommen, «Bericht zu erstatten».

Borchmeyer nennt diese «Erzählung» erhellend eine solche «von Sprachgewinn und Sprachverlust», wobei der Vater Laokoon und dessen jüngerer Sohn in ihrem Leiden tatsächlich verstummen. Kein Gott gibt ihnen zu sagen, was sie leiden, allenfalls ebendem sich womöglich erfolgreich der Schlange entwindenden Älteren. Damit ist diese Skulptur gewiss eines: ein Monument simultanen Geschehens.

Dieter Borchmeyer: Ein Strahl zugleich von zwei Sonnen. Musik und Literatur in wiederholten Spiegelungen. Laaber-Verlag, Lilienthal 2024. 572 S., Fr. 79.90. – Ders.: Laokoon und kein Ende. Über Grenzen und Entgrenzung der Künste. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2024. 202 S., Fr. 33.90.

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