Sonntag, September 8

Das Gebäude soll für 50 Millionen saniert werden. Vorbild beim Umbau sind die Pläne von vor hundert Jahren.

Schon bei seiner Einweihung am 24. Januar 1932 steht fest: Das Kirchgemeindehaus von Wipkingen ist das neue Wahrzeichen des Quartiers. Das Fest zur Einweihung des Bauwerks sei von «berechtigtem Stolz» geprägt gewesen, stand tags darauf in der NZZ.

Für damalige Verhältnisse waren die Dimensionen des Gebäudes enorm, zumal für ein Kirchgemeindehaus. Der Wipkinger Koloss verfügt über 33 000 Kubikmeter Rauminhalt, aufgeteilt auf einen länglichen Kubus und einen Turm mit neun Stockwerken. Eine Million Arbeitsstunden von unzähligen Arbeitern hatte der Bau in Anspruch genommen.

Dieser Turm war das erste Hochhaus der Stadt Zürich und kündete von einer neuen architektonischen Ära, die kriegsbedingt noch zwanzig Jahre auf sich warten liess. Wipkingen war seiner Zeit voraus.

Nun befindet sich das historisch bedeutsame Bauwerk aber schon lange in einem absolut desolaten Zustand: Die Haustechnik ist veraltet, die Fenster genügen den Lärmschutzanforderungen längst nicht mehr. Auf der Terrasse liegt Unrat herum, die Fassade bröckelt und hat einen frischen Anstrich nötig.

Diesen soll sie bekommen – das Haus soll umfassend saniert werden. Die reformierte Kirche von Zürich will 50,2 Millionen Franken aufwenden, um das Haus instand zu setzen und frisch zu beleben.

Die Idee von einst funktioniert bis heute

Im Juni wird das reformierte Kirchgemeindeparlament von Zürich über den Kredit debattieren. Läuft alles wie geplant, dann stimmt die reformierte Stadtbevölkerung im September über das Vorhaben ab. So könnten die Bauarbeiten schon Anfang 2025 beginnen.

Grösste Nutzerin des Projektes wird die Streetchurch, eine soziale Institution der reformierten Kirche Zürich. Philipp Nussbaumer ist Geschäftsleiter bei Streetchurch. Er erklärt, dass es eine Abstimmung in dieser Grössenordnung noch nicht gegeben habe, seit die städtischen Kirchengemeinden 2019 fusioniert hätten.

«Wir haben deshalb keine Referenzwerte dafür, wie unsere Mitglieder zu solchen Fragen stehen», sagt Nussbaumer. Weil in der Stadt Zürich Infrastrukturprojekte meistens positiv aufgenommen würden, sei er aber zuversichtlich.

Neben den baulichen Massnahmen sind auch Veränderungen in der Nutzung des Gebäudes geplant. Anstelle eines rein kirchlichen Zwecken dienenden Gemeindehauses – wie vielerorts üblich – soll das Gebäude zu einem «Haus der Diakonie» werden. Vorbild für diese Pläne waren die ursprünglichen Konzepte, die schon beim Bau ausschlaggebend gewesen waren.

Vor hundert Jahren planten religiöse Sozialisten das Kirchgemeindehaus im Arbeiterquartier Wipkingen als eine Art Volkshaus der Kirche. Es gab Bäder, in denen sich die Arbeiterfamilien waschen konnten, ein alkoholfreies Restaurant sorgte für erschwingliche Verpflegung.

Das sei eine überzeugende Vision gewesen, an der man sich in vielen Bereichen orientiert habe, sagt Nussbaumer. «Aber nicht, weil wir einen Originalzustand wiederherstellen wollten, sondern weil die Ideen von damals sehr vorausschauend waren.»

So liegen die Räume, in denen künftige Beratungsgespräche geführt werden, exakt da, wo auch eine der ersten Mütterberatungsstellen der Stadt Zürich ihr Quartier hatte.

Wo das erste Hochhaus von Zürich steht

Das Oerliker Postamt dürfte als Vorlage gedient haben

Auch baugeschichtlich zeugt das Wipkinger Kirchgemeindehaus der Architekten Hans Vogelsanger und Albert Maurer von Pioniergeist. Bis Anfang der dreissiger Jahre herrschte in Zürich der ländliche Heimatstil vor. Gebäude mit mehr als sechs Stockwerken waren überdies verboten, weil die Leitern der Feuerwehr im Falle eines Brandes zu kurz gewesen wären.

Doch die Feuerwehr wandelte sich und schaffte längere Leitern an. Der Zeitgeist änderte, junge Architekten orientierten sich zusehends an den Vorreitern der Moderne. Diese machten sich in den Grossstädten dieser Welt daran, die Architektur zu revolutionieren.

Nach dem Ausland schauten offenbar auch Vogelsanger und Maurer. Ihrer ersten eigenen öffentlichen Baute, dem Schulhaus Liguster in der damaligen Gemeinde Oerlikon, war 1922 noch der strenge Neoklassizismus anzusehen.

Beim Oerliker Postamt 1927 aber setzten Vogelsanger und Maurer einen ersten modernen Akzent: Zum Gebäude an der Hofwiesenstrasse gehört ein Türmchen. Es schliesst direkt an das Haupthaus an und ragt leicht über das Giebeldach hinaus. Dank dieser Eigenschaft kann das Oerliker Postamt als Vorläufer des Kirchgemeindehauses in Wipkingen gelten. In Wipkingen ist der Turm noch konsequenter aus dem Gebäudequader herausgelöst, wodurch er vom blossen Detail zum eigenständigen Gebäude wird.

Es wirkt, als hätten die Architekten Vogelsanger und Maurer nur ihren eigenen Stil weitergeführt, als sie das erste Hochhaus der Stadt Zürich entwarfen.

Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Bauten sind die grossen Uhren an der Fassade. Übernimmt die Uhr in Oerlikon die Funktion einer Bahnhofsuhr, wirkt sie in Wipkingen wie das Zitat einer Kirchenuhr. Damit zeigt sie den kirchlichen Charakter des Gebäudes an.

Ironischerweise steht beim Kirchgemeindehaus aber gar keine Kirche. Diese liegt ein paar hundert Meter hangaufwärts.

Ein besserer Austausch mit dem Quartier als früher

Heute ist die Bedeutung des Wipkinger Kirchgemeindehauses leicht zu übersehen: Im Quartier rund um die Hardbrücke und den Escher-Wyss-Platz stehen die Hochhäuser aus Stahl, Glas und Beton in Reih und Glied. Das war bei der Einweihung 1932 noch entschieden anders: Damals hatte Wipkingen noch stark den Charakter eines Dorfs.

Und die Gebäude in der Stadt blieben noch eine lange Zeit flach. Bis zu Beginn der fünfziger Jahre stand man Hochhäusern in Zürich skeptisch gegenüber, die «Hochhausfrage» bewegte die Gemüter. Es war der Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner persönlich, der 1952 mit der Siedlung Heiligfeld beim Letzigraben Fakten schuf – genau zwanzig Jahre nach dem Kirchgemeindehaus Wipkingen.

Von da an gab es kein Halten mehr: Bis Ende der siebziger Jahre entstanden auf Stadtgebiet rund 150 Hochhäuser. Der Pioniergeist von Wipkingen drohte in der Masse unterzugehen. Diesen Missstand möchte Philipp Nussbaumer von Streetchurch korrigieren. Geht es nach ihm, soll der besondere Charakter des Wipkinger Kirchgemeindehauses besser zu sehen und spüren sein denn je.

Ganz abwegig ist diese Vision nicht. Denn da, wo vor hundert Jahren ein Ensemble beschaulicher Arbeiterhäuser stand, befindet sich heute ein pulsierender Stadtteil. Im Parterre des neuen «Hauses der Diakonie» wird es ein Restaurant geben, anstelle der Bäder grosse Werkstätten.

Streetchurch hat den Auftrag, junge Menschen ins Arbeitsleben und in die Gesellschaft zu integrieren. Dazu sei das Gebäude perfekt, weil es Platz und Herausforderungen biete, die viel Arbeit schafften, sagt Nussbaumer. Und wo gearbeitet werde, werde auch gelebt. «Das Quartier und das Haus der Diakonie ergänzen sich heute perfekt», sagt Nussbaumer.

Die Zeitverzögerung war schon 1927 ein Thema

Dass die Sanierung so lange auf sich hat warten lassen, passt zur Geschichte des Wipkinger Kirchgemeindehauses. Schon 1927 sah sich der Wipkinger Pfarrer Ernst Altwegg gezwungen, die Verzögerung des Bauvorhabens vor der Kirchgemeinde zu erklären.

Man habe die Errichtung eines neuen Kirchgemeindehauses schon im November 1922 beschlossen, sagte Altwegg in seinem Vortrag. Aber weil die Anforderungen an das Gebäude so vielfältig waren, habe sich kein Architekturbüro weit und breit gefunden, das in der Lage gewesen wäre, einen passenden Vorschlag auszuarbeiten.

Und selbst Vogelsanger und Maurer hätten viele Anpassungen an ihren Entwürfen vornehmen müssen, bis sie den Wünschen der Kirchenpflege genügt hätten.

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