In seinem Roman lässt Thomas Mann den Komponisten Adrian Leverkühn den Freudenjubel der Neunten und ihre Verheissung einer Menschheitsverbrüderung unter dem Eindruck der Zeitläufte zurücknehmen. Aber was heisst das eigentlich?

Die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven wäre wohl nie zu so beispiellosem Ruhm gelangt, hätte die Musik sich im Finalsatz nicht mit einem Text verbündet, der zu den populärsten Gedichten der Zeit gehörte: Schillers Lied «An die Freude», das im 19. Jahrhundert zur heimlichen deutschen Hymne, ja zur Losung der patriotischen Freiheitsbewegung avancierte.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Auch jenseits ihrer nationalen Konnotationen wirkte der Text in Beethovens Vertonung weit über die deutschen Grenzen hinaus. Bereits 1837 schlug ein englischer Kritiker vor, sie zu einer Art europäischer Hymne zu machen. Nach langem Vorlauf wurde sie 1985 schliesslich von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft als offizielle Hymne bestimmt. Sie sollte Ausdruck der Identität und Vielfalt Europas in seiner Einheit sein und für die Werte stehen, auf die sich dieses Europa verpflichtet – Freiheit, Frieden und Solidarität. Um keine Nationalsprache zu bevorzugen, ist die offizielle Europahymne freilich nicht die deutsche Chorfassung Beethovens, sondern eine reine Instrumentalversion.

Dass die heutige EU Beethovens Vertonung dergestalt institutionalisierte, hat indes auch ohne Worte mit den Werten zu tun, die der Musik durch Schillers Gedicht eingeschrieben sind. Vor allem mit der Grundstimmung der Freude. Sie hebt die «Mode» – also die gesellschaftlichen Unterscheidungen, welche die Menschen einander entfremden – auf und lässt sie wieder Brüder und Schwestern sein. Die Freude ist die Weltanziehungskraft, das Gravitationsgesetz der Liebe, das alle Wesen in der Kette des Seins von den Sternen bis zum Menschen, vom Cherub bis zum Wurm aneinander bindet – eingeschlossen das höchste aller Wesen: «Brüder, überm Sternenzelt / Muss ein lieber Vater wohnen.»

Ein «schlechtes Gedicht»

Schillers Lied, das die utopische Aufbruchstimmung der Jahre vor und in der ersten Phase der Französischen Revolution emphatisch zum Ausdruck bringt, ist eines der am häufigsten vertonten Gedichte der deutschen Literatur, seinerzeit von über hundert Komponisten in Musik gesetzt. Als Beethoven es für den Finalsatz seiner Neunten auswählte, gab es allerdings inmitten der repressiven Restaurationszeit keinen Anlass mehr zu Freudenjubel. Die enthusiastische Verheissung einer Menschheitsverbrüderung mutet vor diesem deprimierenden Hintergrund wie die Flucht in eine Hoffnungswelt an, die durch die trübe Gegenwart überholt worden war.

Beethoven stand dieser Gegenwart alles andere als optimistisch gegenüber. Goethe schreibt nach seiner Begegnung mit ihm in Teplitz am 2. September 1812 an Zelter, jener sei eine «leider (. . .) ganz ungebändigte Persönlich­keit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genussreicher macht».

Schiller selbst ging in seinen späteren Jahren auf Distanz zu seinem so populären Gedicht. Es wurmte ihn, dass es durch die vielen Vertonungen immer wieder der Vergessenheit entrissen wurde, in die er es gerne versenkt gesehen hätte. Ein «schlechtes Gedicht» sei es, urteilt er in seinem Brief an Gottfried Körner vom 21. Oktober 1800, das «einem fehlerhaften Geschmack der Zeit» entgegenkomme und deshalb – so seine ironische Pointe – «die Ehre erhalten» habe, «gewissermassen ein Volksgedicht zu werden».

Dem rauschhaften Freudentaumel des Lieds hatte sich der Dichter längst entfremdet, und die trunkene Hoffnung, die sich in seinen Strophen artikuliert, war dem durch den Gang der historischen Ereignisse desillusionierten Geschichtspessimisten unglaubwürdig geworden. Das apokalyptische Grauen der Kriege und Genozide des 20. Jahrhunderts scheint dann die Freude als Prinzip einer versöhnten Menschheit erst recht ad absurdum geführt zu haben.

Ein hellhöriger Dirigent wie Michael Gielen hat deshalb versucht, die Selbstverständlichkeit von Beethovens Freudenhymnus – der zudem durch den kommerzialisierten Musikbetrieb sinnentleert und trivialisiert worden sei – aufzubrechen, indem er dem Schlusssatz bei Aufführungen wiederholt Arnold Schönbergs Holocaust-Memorial «Ein Überlebender aus Warschau» vorschaltete.

«O Freunde, nicht diese Töne!»

Literarisch ist jenes Chorfinale am nachhaltigsten im Schlussteil von Thomas Manns Roman «Doktor Faustus» in Zweifel gezogen worden. Das fiktive letzte Werk seines Protagonisten Adrian Leverkühn, die Kantate «Dr. Fausti Weheklag», soll als «Lied an die Trauer» das «Gegenstück in des Wortes schwermütigster Bedeutung» zu Beethovens 9. Sinfonie sein. Es will diese förm­lich «zu­rück­neh­men».

Der orche­strale Adagio-Satz, mit dem Le­ver­kühns letztes Werk schliesst, ist nach Aussage des Chronisten Serenus Zeit­blom «gleich­sam der umge­kehr­te Weg des ‹Lie­des an die Freu­de›, das kon­ge­niale Nega­tiv jenes Über­gangs der Sym­phonie in den Vokal-Jubel, es ist die Zurücknah­me». Eine Zurücknahme also, welche die inhaltliche Entwicklung der Beethoven-Sinfonie genau umkehrt.

Deren Finalsatz ist immerhin die gewaltigste Thematisierung des Siegs der Musik über die Melan­cho­lie: «O Freunde, nicht diese Töne!», ruft der Bariton bei seinem ersten Einsatz – Beethoven selbst hat den Appell dem hymnischen Schil­ler-Text vorangestellt. «Diese Töne» – das meint die schwermütige Grundstimmung der ersten drei Sätze, die zuvor durch Selbstzitate in Erinnerung gerufen werden. Mit diesem Kunstgriff bereitet Beethoven die affirmative Wendung vor, die sich mit dem Eintritt des Freudenthemas vollzieht. In Leverkühns Kantate hingegen beschreibt die Musik den exakt gegenläufigen Prozess: Die Vokalmusik verwandelt sich wieder in reine Instrumentalmusik, und jede Hoffnung weicht einer melancholischen Grundstimmung.

«Ich habe gefunden, es soll nicht sein.»
«Was, Adrian, soll nicht sein?»
«Das Gute und Edle», antwortete er mir, «was man das Menschliche nennt. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.»
«Ich verstehe Dich, Lieber, nicht ganz. Was willst Du zurücknehmen?»
«Die Neunte Sinfonie», erwiderte er.

Thomas Mann, «Doktor Faustus»

In Walter Benjamins Monografie «Ursprung des deutschen Trauer­spiels», die Theodor W. Adorno Thomas Mann in der Zeit seiner Arbeit am «Doktor Faustus» schenkte, findet sich ein barockes Zwiegespräch zwischen «Melan­koley» und «Freude». Erstere sitzt in ihrer stereotypen Haltung «auff einem Stein / unter einem dürren Baum / den Kopff in den Schooss legend», während ihr Widerpart mit der obligatorischen «Laute» hereintanzt – ist doch die Musik der Zupfinstrumente von jeher das spezifische Medium der Freude gewesen.

Ihr setzt Adrian Leverkühn nun eine ganz andere Musik entgegen, die radikal mit jener Stimmungstradition bricht, indem sie gar zum Ausdruck einer bis zum Äusser­sten gesteigerten Melancholie wird. Und nicht nur ihrem Gehalt nach, sondern eben auch kompositionstechnisch wird die Musik der Freude zurückgenommen: Die aus der Instrumentalmusik her­vorbrechende Vokalmusik der Neunten wird am Ende von Leverkühns Kantate im reinen Instrumental­satz buchstäblich wieder zum Verstummen gebracht.

«Ein Licht in der Nacht»

Im Kapitel XX des Romans hatte Lever­kühn noch demonstriert, «dass die ganze deutsche Musikentwick­lung zu dem Wort-Ton-Drama Wagners hinstrebe». Er hatte sich damit Richard Wag­ners teleologi­sches Modell zu eigen gemacht, demzufolge die 9. Sinfonie die Brücke schlage von der absoluten Musik zum Musik­drama als dem Zielpunkt der Musikge­schichte. Mit Leverkühns Worten: dass «das Wort aus der Musik hervorbräche, wie es sich gegen Ende der Neunten Sympho­nie ereigne». Wenn Leverkühns letztes Werk nun den «umgekehr­ten Weg des ‹Liedes an die Freude›» vollzieht, scheint hier ein weiterer Gedanke aus Walter Benjamins Trauerspielbuch wiederzukeh­ren, die Idee vom Weg der Melancholie ins Verstummen: «Es ist in aller Trauer der Hang zur Sprachlosigkeit.»

Doch Adrians Welt-Abschiedssinfonie – die Haydn-Reminiszenz in der Beschreibung des Schlusses von «Dr. Fausti Weheklag» ist nicht zu verkennen –, endet sie wirklich im gänzlichen Ver­stummen der ent­sprachlichten Musik? Wir zitieren die letzten Sätze des Kapitels XLVI: «Hört nur den Schluss, hört ihn mit mir: Eine In­strumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig­bleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.»

Der letzte Ton des sprachlos aus­klingenden Werks wird als letztes «Wort»(!) bezeichnet; es bedeutet den «Ausklang der Trauer», der keine Trauer mehr ist, sondern Licht der Hoffnung in der Nacht der Hoffnungslosigkeit. In diesem letzten Ton – als «letztem Wort» – hebt das «Lied an die Trauer» sich selbst auf. Das letzte Wort von Adrian Leverkühns letztem Werk gehört einem Ton, der nicht mehr Vokalmusik ist, aber dem eine worthafte Semantik zukommt und der auf diese Weise gerade in seiner Sprachlosigkeit zur Sprache wird.

Wenn Leverkühn in seiner Kantate Beethovens Weltumarmung («diesen Kuss der ganzen Welt») und das «Menschliche» überhaupt zurücknimmt («es soll nicht sein»), dann heisst das demnach nicht, dass dieses Menschliche als solches, im Namen einer Umwertung der Werte, negiert werden soll. Zum Ausdruck kommt vielmehr die verzweifelte Überzeugung, dass es seiner Zeit verwehrt ist, das Menschliche zu verwirklichen.

Der «Anti-Humanismus» in «Doktor Faustus», so hat Thomas Mann einmal gesagt, sei «Schmerz um das Irregehen und das Verderben des Homo Dei». Adrian Leverkühn stimmt nach den Worten des Erzählers Zeitblom in «die Klage Gottes über das Verlorengehen seiner Welt» ein – einer Welt, die sich einst im hymnischen Lobpreis der Freude vereinte und in einem «lieben Vater» wiederfand.

Diesen Hymnus, so die melancholische Einsicht des Romans, kann und darf die Welt nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts nicht mehr anstimmen. Mit dem Tod von Echo, Leverkühns geliebtem Neffen, der Vernichtung der «Erscheinung des Kindes auf Erden», mit der Zerstörung also des Erlösungstraums vom «Got­teskind» der Vierten Ekloge Vergils und des Evangeliums scheint der Musik der Ausdruck der Freude für immer versagt zu sein.

Das aber soll kein Gericht über Schillers und Beethovens Freudengesang sein, sondern das Gericht über eine Welt, welche die in ihm gefeierten Werte verraten und geschändet hat. Den ursprünglichen Sinn des Lieds an die Freude vermag, so scheint es, nur noch seine Negation zu retten.

«Transzendenz der Verzweiflung»

Die Zurücknahme der 9. Sinfonie hat in Adrian Leverkühns Opus ultimum allerdings nicht «das letzte Wort», wie wir sahen; sie wird ihrer­seits zurückgenommen. Und wenn das schon für sein Abschieds­werk gilt, dann ist es erst recht ver­fehlt, Thomas Manns Roman «Doktor Faustus» selbst – wie es bis in die jüngste Zeit in der Forschung geschehen ist – für eine Zurücknahme der 9. Sinfonie zu halten.

Freilich redet auch Serenus Zeitblom in Bezug auf das letzte Werk des Freundes von einer «Negativität des Religiösen», die sich der «Positivität der Welt», der «Lüge ihrer Gottseligkeit», einer «matten Gottesbürgerlichkeit» und wohlfeilen Gnadengewissheit widersetze. «Dies dunkle Tongedicht lässt bis zuletzt keine Vertröstung, Versöhnung, Verklärung zu. Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, dass aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck – der Ausdruck als Klage – gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, dass aus tiefster Hoffnungslosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung – nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht.»

Das sind Formeln einer in langer Tradition stehenden negativen Theologie, in deren Geist die Zurücknahme der 9. Sinfonie ihrer­seits zurückgenommen wird – auch wenn deren finaler «Vokal-Jubel» als Ausdruck einer «Positivität der Welt» der Musik nun für immer versagt bleiben muss.

Die Worte von der «Hoffnung jenseits der Hoff­nungslosigkeit», der «Transzendenz der Verzweiflung», vom «Wunder, das über den Glauben geht», hat Thomas Mann selbst in Erinnerung gerufen, wenn ihm christliche Kritiker wie Hans Egon Holthusen zu seiner Erbitterung vor­hielten, sein Roman stelle eine «Welt ohne Transzendenz» dar. Demgegenüber betonte er immer wieder, sein Roman sei «ein religiöses Buch». In diesem Licht ist die Zurücknahme der Zurücknahme der Neunten zu sehen: als ihr «kongeniales Negativ» in einer Welt, die ihre «Positivität» eingebüsst hat.

Exit mobile version