Erstmals seit ihrer Machtübernahme im Jahr 2002 hat Erdogans Partei die Mehrheit in der Türkei verloren. Die Opposition geht damit gestärkt in den Kampf um das Erbe des alternden Präsidenten, der seinen Zenit überschritten hat.
Es ist ein Sieg, wie ihn sich die Opposition selbst nicht erträumt hatte. Die Republikanische Volkspartei (CHP) hat nicht nur Istanbul, Ankara und die meisten anderen grossen Städte gewonnen, sondern erstmals seit Jahrzehnten auch die meisten Wähler in der Türkei hinter sich geschart. Mit landesweit 37 Prozent übertraf sie knapp die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Präsident Erdogan. Die islamisch-konservative Regierungspartei erleidet damit ihre schwerste Niederlage seit ihrer Machtübernahme im Jahr 2002.
Nicht nur die traditionell kemalistisch geprägten Küstengebiete im Westen haben dieses Mal die CHP gewählt, sondern auch grosse Teile Anatoliens. Die Partei von Staatsgründer Atatürk hat selbst traditionelle AKP-Hochburgen wie Bursa erobern können. Am wichtigsten ist aber, dass sie neben der Hauptstadt Ankara auch Istanbul gehalten hat. Die Bosporus-Metropole ist mit 16 Millionen Einwohnern die mit Abstand grösste Stadt und das Kraftzentrum des Landes.
Der Triumph der CHP ist umso grösser, als ihn niemand erwartet hatte. Anders als bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Mai, als eine Abwahl Erdogans in Reichweite schien, hat dieses Mal kaum jemand mit einem Sieg der CHP gerechnet. Zu tief sass noch die Enttäuschung von letztem Jahr. Auch wirkte die Opposition uneinig und geschwächt. Ihr Sechser-Bündnis war zerfallen, und die CHP schien vorwiegend mit sich selbst beschäftigt.
Die AKP erhält die Rechnung für die hohe Teuerung
Wie ist also dieser Sieg zu erklären? Zunächst einmal drückt sich darin wohl der wachsende Unmut über die hohe Inflation aus. Die Regierung ist zwar unter Finanzminister Simsek zu einer orthodoxen Zins- und Währungspolitik zurückgekehrt. Doch den Sinkflug der Lira hat sie nicht stoppen können, und die Teuerung hält unvermindert an. Gerade in Grossstädten wie Istanbul und Ankara machen die exorbitanten Lebenshaltungskosten den Leuten schwer zu schaffen.
Schon letztes Jahr war der Frust der Wähler gross. Viele trauten damals aber dem disparaten Sechser-Bündnis um die CHP nicht zu, die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Am Ende schreckten viele davor zurück, mitten in der Krise die Regierung zu wechseln. Bei den Kommunalwahlen gab es diese Sorge nicht. Viele, die letztes Jahr widerstrebend die AKP gewählt hatten, haben dieses Mal für die CHP gestimmt oder sind einfach zu Hause geblieben.
Der AKP ist es offenkundig nicht gelungen, ihre Wähler zu mobilisieren. Die Beteiligung lag neun Prozentpunkte niedriger als letztes Jahr. Obwohl Präsident Erdogan erneut durchs ganze Land getourt ist und den Wahlkampf mit einer Grosskundgebung in Istanbul beendet hat, hat er die Wähler nicht in gewohnter Weise an die Urnen bringen können. Auch Erdogans ultrarechter Koalitionspartner Bahceli und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) haben enttäuscht.
Erdogans gefährlichster Gegner heisst Imamoglu
Nun wäre es verfrüht, das Ende der Ära Erdogan einzuläuten. Die nächsten Wahlen stehen erst 2028 an. Niemand kann der Regierung bis dahin ihre Macht streitig machen. Auch ist es keineswegs sicher, dass die Türkinnen und Türken bei der Präsidentenwahl so abstimmen werden wie bei der Wahl ihrer Bürgermeister und Stadträte. Der Urnengang letztes Jahr hat dies klar gezeigt. Um auch die Präsidentschaft zu gewinnen, wird sich die CHP anders aufstellen müssen.
Doch gibt der Sieg der Opposition neue Hoffnung. Er zeigt, dass die AKP nicht unbesiegbar ist. Auch ist nicht mehr zu übersehen, dass der alternde Präsident seinen Zenit überschritten hat. Die CHP wird künftig durch die Kontrolle der grossen Städte mehr Ressourcen für den Wahlkampf haben. Mit Mansur Yavas in Ankara und Ekrem Imamoglu in Istanbul hat sie zudem zwei Politiker, welche die Massen zu begeistern wissen. Gerade Imamoglu macht kein Geheimnis daraus, dass er nationale Ambitionen hat. Mehr denn je ist der Istanbuler Bürgermeister für Erdogan der gefährlichste Herausforderer.

