Freitag, November 29

Das Schweizer Team hat seine spektakulären Transfers akribisch vorbereitet. Schon jetzt gehören einstige Vertraute von Alaphilippe und Hirschi zum Betreuerstab. Der soll nun weiter wachsen.

Julian Alaphilippe ist Radprofi, aber seine offizielle Berufsbezeichnung wird dem Franzosen nur unzureichend gerecht. Der zweifache Weltmeister, der umgeben von Künstlern als Sohn eines Bandleaders aufwuchs, hat die Aura eines Rockstars, und er durchlebt ähnliche Formschwankungen. Im Frühjahr stellte sein eigener Teamchef eine ätzende Behauptung auf: «Zu viele Partys, zu viel Alkohol.»

Gerade in Rennen, die besonders zu reden geben, kreuzt Alaphilippe auffallend häufig die Klingen mit Marc Hirschi. Der vielversprechendste Schweizer Fahrer wirkt im Auftreten introvertierter, ist aber gleichermassen mit einem Faible für Geniestreiche ausgestattet. Vor wenigen Tagen distanzierte das Duo an der Classique San Sebastián im Schlussanstieg sämtliche Gegner, beide pokerten im Endspurt hoch, das bessere Ende behielt Hirschi. 2020 hätte der Schweizer wohl auch das Monument Lüttich–Bastogne–Lüttich gewonnen, wäre ihm Alaphilippe nicht kurz vor dem Ziel in die Ideallinie gefahren.

Marc Hirschi Vs. Julian Alaphilippe: Who Stopped Who in San Sebastián 2024?

Alaphilippe und Hirschi machen Radrennen zu Feuerwerken. Dass sie fast zeitgleich beim gleichen unterklassigen Team unterschreiben würden, als seien sie Freunde, hätte sich noch vor wenigen Tagen fast so unplausibel angehört wie eine Versöhnung der Brüder Liam und Noel Gallagher. Und doch treten die beiden Velofahrer ab 2025, während Oasis wieder auf Tournee geht, im Trikot der Schweizer Equipe Tudor an. Das kann etwas werden.

Gefürchtete Doppelspitze an den Ardennen-Classiques

Im Idealfall werden die beiden Fahrer beispielsweise an den Ardennen-Classiques so gut kooperieren, dass sie gelegentlich sogar Tadej Pogacar in Bedrängnis bringen, den grössten Star der Szene. Die notwendige Unberechenbarkeit bringen sie jedenfalls mit.

Alaphilippe wird im optimistischen Szenario ausserdem an der Tour de France brillieren, zumal die Einladung zum weltgrössten Radrennen, auf die Tudor zurzeit noch angewiesen ist, dank dem einheimischen Volkshelden fast nur noch Formsache ist. Hirschi wiederum könnte auch am Giro d’Italia um Etappensiege kämpfen, nachdem ihn sein bisheriges Team UAE in letzter Zeit in fast sträflicher Manier von dreiwöchigen Rundfahrten ferngehalten hat. Stattdessen musste er Punkte in Provinzrennen sammeln.

Beide Fahrer finden also im Idealfall bei Tudor zu jener Form zurück, in der sie um das Jahr 2020 herum in der Lage waren, die Radsportwelt aus den Angeln zu heben. Was aber, wenn es anders kommt? Wenn Alaphilippe weiter mit sich hadert wie in letzter Zeit, als Experten bei ihm ein Energiedefizit infolge seines tiefen Körpergewichts vermuteten? Und wenn Hirschi in wichtigen Rennen erneut vorzeitig den Anschluss verliert wie gelegentlich im UAE-Trikot, als er begrenzt Lust zu haben schien, Pogacar zu helfen?

Die Verantwortlichen der Schweizer Mannschaft sind zuversichtlich, beide Negativszenarien vermeiden zu können. Und ihnen ist zugutezuhalten, die Transfer-Coups akribisch vorbereitet zu haben. Schon jetzt steht bei Tudor Ricardo Scheidecker unter Vertrag. Alaphilippe kennt seinen künftigen Sportchef gut, in seiner bisher besten Karrierephase gehörte Scheidecker zu den Schlüsselpersonen bei Quickstep. Hirschi wiederum dürfte sich bei Tudor besonders auf den Cheftrainer Sebastian Deckert freuen. Mit ihm arbeitete er in seiner Spitzenzeit bei Sunweb eng zusammen.

Auf bewährte Seilschaften zu setzen, ist eine vielversprechende Strategie. Der Tudor-Teambesitzer Fabian Cancellara weiss zudem, was es heisst, impulsive Captains bei Laune zu halten – er war einst selbst einer. Der zweifache Olympiasieger telefonierte bereits vor der Vertragsunterzeichnung vielfach mit Alaphilippe, um dessen Vertrauen zu gewinnen. Bei Quickstep war dem Franzosen zuletzt zunehmend das Gefühl vermittelt worden, im Schatten des Jungstars Remco Evenepoel zu stehen. Dergleichen soll sich bei Tudor nicht wiederholen.

Zu Hirschi hat Cancellara schon lange einen engen Draht, er war dessen persönlicher Manager und stammt ebenfalls aus Ittigen bei Bern. Was nichts daran änderte, dass sich der Fahrer viel Zeit liess, bevor er Tudor zusagte. Hirschi entpuppte sich auch in Vertragsverhandlungen als Pokerspieler, der nur einer einzigen Person vertraute: sich selbst. Für die Schweizer Mannschaft sprach deren klare Absicht, seine Saison vorteilhafter zu planen. Hirschi soll nicht mehr permanent auf Achse sein, sondern punktuell zur Topform finden.

Tudor hat das Budget signifikant erhöht

Die grössten Radteams haben die Betreuung ihrer Fahrer in einer Art und Weise professionalisiert, welche einschüchternd wirken kann. So listet die niederländische Equipe Visma, die auch über ein Frauenteam verfügt, auf ihrer Website 154 Angestellte auf. Von ihnen kümmern sich alleine 14 ganz oder teilweise um Ernährungsfragen.

Tudor kann eine derartige Rundumversorgung bis jetzt nicht bieten, bemüht sich aber nach Kräften, den Anschluss herzustellen. Der namengebende Sponsor, eine Schwestermarke von Rolex, hat das Budget signifikant erhöht. Andere Geldgeber haben nachgezogen. Nun ist es möglich, den Mitarbeiterstab zu erweitern. Bis 2025 soll ein weiterer Trainer hinzukommen, ein oder zwei Mediziner, zwei oder drei Kommunikationsexperten sowie mehrere Mechaniker und Soigneurs.

Die Zielsetzungen sind ambitioniert, sie gehen über unmittelbare Erfolge hinaus. «Wir wollen den Radsport in der Schweiz voranbringen», sagt der CEO Raphael Meyer. Hirschi könne hier mit seiner Medienpräsenz als einheimischer Fahrer einiges auslösen. «Wir wollen, dass mehr junge Menschen aufs Velo steigen.» Einen solchen Boom auszulösen, wäre nachhaltiger, als es das Comeback einer gealterten Rockband je sein könnte.

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