Mittwoch, Januar 15

Ärzte sollen Geld verdienen, indem sie ihre Patienten gesund halten: Das ist Kern des integrierten Modells der Visana im Berner Jura. Dieses solle auch in anderen Kantonen zum Einsatz kommen, sagt Verwaltungsratspräsident und Mitte-Nationalrat Lorenz Hess.

Herr Hess, ist die Schweizer Grundversicherung eine Luxusversicherung?

Es ist sicher eine sehr umfassende Versicherung, weil die Leistungen stetig ausgebaut wurden. Man hat bisher kein Mittel gefunden, wieder zurückzubuchstabieren. Man ist sich zwar einig, dass man den Katalog einschränken sollte, aber sobald es konkret wird, ist es mit der Einigkeit vorbei.

Wo würden Sie ansetzen?

Man müsste bei Leistungen der Komplementärmedizin über die Bücher gehen.

Die Alternativmedizin kostet 10 bis 20 Millionen Franken, das ist bei 40 Milliarden Kosten der Grundversicherung ein Klacks. Gibt es sonst Punkte, die man ersatzlos streichen könnte?

Zugegeben, die grossen Würfe sehe ich auch nicht. Allerdings ist ein guter Teil der Operationen aus rein medizinischer Sicht unnötig. Auf solch sinnlose Behandlungen werden wir verzichten müssen. Alles in allem sind wir schon gut beraten, wenn wir künftig nicht noch mehr in den Grundleistungskatalog reinpacken.

Aber selbst Ihre Partei, die Mitte, sagt, man könne 20 Prozent der Kosten ohne jegliche Qualitätsverluste einsparen.

Dies könnte ich nicht belegen. Aber es geht um Mehrfachbehandlungen und Übermedikation. Und aufseiten der Konsumenten ist es der «moral hazard», dass ich also mit einer umfassenden Versicherung so viele Leistungen wie möglich beziehe.

Die Mitte verlangt mit einer Initiative, dass Sparmassnahmen erfolgen, wenn die Kosten der Grundversicherung rascher steigen als die Löhne. Ist das der richtige Ansatz?

Ob das der goldene Weg ist, weiss ich nicht. Aber der Ansatz ist richtig. Wir können es uns nicht leisten, wenn eine Partei ein klares Konzept vorlegt, dieses sogleich zu verwerfen. Wir müssen als Branche der Krankenversicherer über Kostendämpfungsmassnahmen diskutieren, sonst sind wir nicht mehr glaubwürdig.

Weshalb kommt jeder Krankenversicherer nicht von sich aus auf Sparideen im Interesse der Versicherten? Weshalb braucht es da den Bund?

Die Krankenkassen sind durchaus aktiv. Branchenweit kontrollieren wir 3 Milliarden Rechnungen pro Jahr. Würde zudem der Kontrahierungszwang mit den Ärzten fallen, also die Vorschrift, dass die Versicherer mit allen – auch den ineffizienten – zusammenarbeiten müssen, könnten wir im Bereich Überbehandlung und Übermedikation noch mehr machen. Allerdings sollte man den Effekt auch nicht überschätzen.

Wie meinen Sie das? Die Aufhebung des Kontrahierungszwanges gilt doch bei Versicherern sonst als Königsweg?

Ich beurteile es anders. Drei Viertel der Versicherten sind bereits in alternativen Versicherungsmodellen, in denen der Kontrahierungszwang nicht gilt. Dessen Aufhebung ist ein Mosaikstein, aber die milliardenschwere Einsparung bringt das nicht. Die Qualität in der Leistungserbringung ist gut, weil wir relativ wenige schwarze Schafe haben.

Sie haben an einer Veranstaltung gesagt, die Diskussion über die Rationierung wolle niemand führen. Aber müsste man es nicht tun?

Rationierung dreht sich um die Frage: Was hat wer wann noch zugute? Im Ernstfall wäre auch der eingefleischte Gesundheitsökonom dagegen, dass man seiner 94-jährigen Mutter die Herzklappe nicht mehr ersetzt. Ich sehe nicht, dass man das vernünftig diskutieren kann.

Angenommen, eine 92-jährige Person erhält eine Chemotherapie, die 100 000 Franken kostet, die Lebenserwartung aber nur um zwei Monate erhöht. Bezahlen wir das einfach?

Wenn es jemandem gelingt, einen Kriterienkatalog auszuarbeiten, der vor der Ethikkommission besteht, hätte er eine Auszeichnung verdient. Bevor man Leistungen kürzt, müsste man stattdessen zum Beispiel mit der Pharmaindustrie über Entschädigungsmodelle für solch teure Medikamente sprechen.

Oder man wirkt als Krankenversicherer bei den Leistungserbringern darauf hin, dass sie nicht alles, was möglich ist, noch machen.

Ich formuliere es neutral: Die Branche rentiert heute, wenn die Leute krank sind. Fehlanreize bringen Qualität und Kosten aus dem Lot. Mit der integrierten Versorgung im Modell Réseau de l’Arc versuchen wir einen Paradigmenwechsel zu erreichen. Wir möchten ein Gesundheitswesen, das rentiert, wenn die Leute möglichst nicht krank werden.

Sprechen wir über dieses integrierte Modell, das die Visana mit dem Kanton Bern und dem Ärztenetzwerk Swiss Medical Network auf den 1. Januar im Berner Jura gestartet hat. Dabei erhalten die Spitäler und Ärzte für jeden Versicherten einen fixen Betrag. Dadurch sollte es sich nicht lohnen, überflüssige Behandlungen zu machen. Vielmehr wird es lukrativ, die Versicherten möglichst gesund zu halten. Wie viele Versicherte konnten Sie davon überzeugen?

Rund 1500 Personen. Da denkt man, das ist nicht gerade viel. Es ist uns wichtig, dass diejenigen, die drin sind, auch kriegen, was wir versprechen. Der Hausarzt funktioniert als Koordinator. Die Versicherten sollen dabei merken, dass sie nicht dreimal dasselbe gefragt werden.

Ist es nicht ein bisschen enttäuschend, dass es keinen Run auf das Modell gegeben hat, bei dem man doch ein Viertel Prämie sparen kann?

Wir streben mittelfristig an, dass sich im Jurabogen 10 000 Personen in diesem Modell versichern lassen. Aber es ist besser, dass wir jetzt noch justieren können. Und klar ist auch: Am Anfang rechnet sich der ganze Aufwand noch nicht. Aber wir denken, in 7 bis 10 Jahreszyklen.

Dann geht die Rechnung auf?

Wir machen das nicht, weil wir Gutmenschen wären! Wir sind ein Unternehmen und müssen rentieren. Aber als Krankenversicherer haben wir auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Was wir versuchen, funktioniert ja immerhin im Ausland schon an einigen Orten. Es ergibt offensichtlich Sinn, dass man ein System aufbaut, das dann rentiert, wenn die Leute nicht krank werden – heute ist es leider umgekehrt. Durch den Fokus auf Prävention bleiben die Kunden länger gesund, und chronisch kranke Patienten werden besser betreut. Dies spart langfristig Kosten.

Wie realistisch ist es, dass das Modell in ein paar Jahren auch in anderen Kantonen zum Einsatz kommt?

Sehr realistisch. Es haben sich schon mehrere Gesundheitsdirektoren bei mir gemeldet. Der Staat pumpt enorm viel Geld in die Spitäler, das kann nicht so weitergehen. Deshalb ist der Anreiz gross, vielversprechende Alternativen auszuprobieren.

Ein Kerngedanke ist die Prävention. Bisher haben die Krankenkassen kaum einen Anreiz, in die Gesundheit ihrer Kunden zu investieren, weil die Gefahr gross ist, dass sie bald zu einer Konkurrenzkasse wechseln.

Es ist den Kassen in der Grundversicherung heute gar nicht möglich, Präventionsmassnahmen breit zu finanzieren. Das muss sich ändern. In einer integrierten Versorgungsregion kann man zum Beispiel auch Ernährungs- oder Schlafcoachs als Leistungserbringer aufnehmen.

Damit es sich für die Krankenkassen lohnt, in die Gesundheit ihrer Kunden zu investieren, müsste man längerfristige Verträge ermöglichen. Einverstanden?

Ja, das ist offensichtlich. Vielleicht kommt eine solche Möglichkeit im Rahmen des Kostendämpfungspakets, es wäre zu hoffen.

Gegen solche Lösungen wird gern das Argument der «Knebelverträge» vorgebracht. Die Vorstellung einer längeren Beziehung zu einer Kasse ist für viele Kunden offenbar abschreckend. Haben Sie ein Imageproblem?

Das Image ist nicht sehr gut, wir sind nicht beliebt. Aber es wächst langsam die Erkenntnis, dass nicht wir schuld daran sind, dass die Prämien jedes Jahr steigen. Sondern dass dies eine Folge davon ist, dass wir alle brutal viele Leistungen des Gesundheitssystems beziehen. Ich verstehe, dass viele denken: Ich habe so viel Prämien bezahlt, jetzt will ich auch einmal etwas dafür haben. Und es ist sehr schwierig, gegen diese Mentalität etwas auszurichten. Das zeigt sich exemplarisch an der Diskussion über eine Notfallpauschale.

Die Notfallstationen der Spitäler werden überrannt von Patienten mit Bagatellbeschwerden. Deshalb wollte das Parlament eine Gebühr von 50 Franken einführen.

Ja, da dachten alle: Super Idee! Aber es ist eine Zangengeburt, wir haben nach bald sieben Jahren noch keine brauchbare Lösung. Ich besuchte die Notfallstation des Inselspitals, und dessen Leiter sagte mir: «Was ihr wollt, wird nicht funktionieren.» Es führt nur zu einer riesigen Bürokratie, wenn man unterscheiden will, was denn richtige und was falsche Notfälle sind.

Heute entspricht die Krankenversicherung mit ihrer niedrigen Mindestfranchise einem «All you can eat»-Buffet. Müsste man die Kostenbeteiligung erhöhen?

Wir sprechen gerne von Selbstverantwortung. Ein Schritt dahin wären einkommensabhängige Franchisen. Wer viel verdient, hätte eine höhere Franchise. Es wäre dann so, dass jemand mit hohem Einkommen und hoher Franchise die gleiche Prämie bezahlen würde wie jemand mit geringem Einkommen und geringerer Franchise. Das Solidaritätsprinzip würde also weiterhin gelten.

Die Einheitskasse ist mehrheitsfähig, wie Umfragen zeigen.

Ja, weil die Leute meinen, es werde dann billiger. Das ist eine Illusion. Man kann eine staatliche Kasse auf die grüne Wiese stellen, die Gesundheitskosten, die wir alle generieren, bleiben dieselben. Und die Verwaltungskosten würden sicher nicht tiefer als die fünf Prozent von heute sein, wenn eine Bundesverwaltung am Werk wäre. Was sich aber sicher ändern muss: Die Zahl der Krankenkassen wird stark sinken.

Was wäre eine gute Anzahl?

Mehr als zehn Versicherer brauchen wir nicht. Das sind immer noch mehr als genug, um einen gesunden Wettbewerb zu garantieren.

Welcher Wettbewerb? Kartelle von Versicherern handeln mit Kartellen von Spitälern und Ärzten Tarife aus.

Sie haben recht, wir müssen beweisen, dass der Wettbewerb zu mehr Innovation führt, etwa bei der Prävention. Oder eben dank Projekten wie dem Réseau de l’Arc.

Sie fordern auch eine nationale Spitalplanung. Das tönt nicht nach Wettbewerb, sondern nach Planwirtschaft.

Ich bin zwar nur ein kleiner Unternehmer, aber ich bin einer. Und gewiss kein Etatist. Aber wir müssen uns schon überlegen, wozu wir rund 280 stationäre Einrichtungen in der Schweiz brauchen. Dänemark hat, mit einem Drittel weniger Einwohner, 80 Spitäler – und das System dort ist nicht schlechter. Wenn wir die Kosten in den Griff bekommen wollen, braucht es bei den Spitälern mehr zentrale Planung und Steuerung.

Das Problem ist heute, dass die Kantone aus politischen Gründen auch die ineffizienten Spitäler am Leben erhalten.

Ja, deshalb haben die Kantone auch keine Freude an dieser Diskussion. Manche Gesundheitsdirektoren fürchten sich vor einer Abwahl, wenn sie Spitäler schliessen. Aber man kann den Bedarf an stationären Einrichtungen in einem so kleinen Land wie der Schweiz nur national betrachten.

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