In der Rekrutenschule gibt es spezielle Rituale und verunglückten Fachjargon. Die Geschichte von Dora I und II erzählt davon. In einer Stellungnahme zum Vorfall schreibt ein Armeesprecher, die Armeeführung toleriere keine Fälle von Diskriminierung und Sexismus.
Aus der Rekrutenschule in Bière im Waadtland erreicht uns ein Bild von Dora: rote Lippen, schwarze Haare, tiefes Décolleté. Dora, so erfahren die jungen Aufklärer von ihren Vorgesetzten, soll über die Sitten wachen. Zwar nicht über die Moral, aber über den Dresscode der Rekruten. Aus diesem Grund muss Dora immer da sein, in Griffnähe, auch wenn sie unhandlich ist. Dora ist ein Stein; ein sogenannter «Nef.»-Stein, wobei «Nef.» im Militär für «Nicht erfüllt» steht. Dem Betrachter fällt sofort auf: Dora hat – ihrer Mission zum Trotz – keine Augen. Solche braucht sie nach Ansicht ihrer Erfinder offenbar nicht. Womöglich, weil sie sonst gut ausgestattet ist.
Schikane als Ziel
Ist Dora im Jahr 2024 ein Problem? Man kann sagen, sie sei eine Bagatelle, ein verunglückter Scherz, eine spätpubertäre Grenzüberschreitung in einem maskulin geprägten Umfeld. Ja, kann man so sehen. Dennoch hat Dora ein Problem. Sie zeigt eine schlechte Haltung.
Dora lastet auf dem Zug. Für die zarten Rekruten ist die Frau eine Bürde. Sie ist unbequem, unpraktisch und kann nicht selbst laufen. Deshalb muss sie auf den langen Fussmärschen getragen werden. Dora I – obwohl attraktiv – ist darum in Bière auch nie zu einer Trophäe geworden. Gedacht und geblieben ist sie als kleine Schikane – und freudvolles Machtinstrument des Wachtmeisters.
Nun ist es nicht einfach, der jungen Generation Zucht und Ordnung oder mindestens Disziplin beizubringen, die es im Militär entgegen allem Zeitgeist doch braucht. Ob Schikane allerdings zum Ziel führt, darf bezweifelt werden.
Niemand wollte die junge Frau mit sich tragen. Die Regel lautete: Dora zieht weiter, wenn ein Rekrut bei einem anderen einen Fehler im Tenue beobachtet: Béret schief auf dem Kopf, Hemd nicht sauber in der Hose oder sonstige Unzulänglichkeiten. «Es hat mich immer genervt, wenn ich Dora bekam», berichtet unser Informant, der sich selbst YAP nennt. Er habe jeweils überlegt, Dora zumindest nicht den guten Kameraden aufzuhalsen. Man merke: Dora begünstigt das Anschwärzen von Kameraden, nicht aber Korpsgeist und Zusammenhalt.
Dora ohne Diskretion
Ach ja, es sollte ja um die Geschichte von Dora I UND Dora II gehen. Eines Tages beim Appell war Dora nicht zur Stelle. Unser Rekrut hatte sie in seiner Packung (übersetzt: Rucksack) am Rand der Wiese geplankt (abgestellt). Dora I wurde daraufhin eingezogen und durch Dora II ersetzt. Im grösseren Format, schwerer, unhandlicher. Die Begründung des Wachtmeisters: «Ihr habt euch nicht genug um sie gekümmert.»
Doch Dora II entfaltete nicht die gleiche Wirkung. Unser Rekrut machte dem Wachtmeister einen Strich durch die Rechnung, indem er das dumme Spiel durchbrach. Anstatt Dora II schnellstmöglich an einen weniger beliebten Kollegen abzudrücken, entschloss sich YAP, Dora dauerhaft bei sich zu behalten. Kein Anschwärzen mehr, keine Schikane. Die Generation Z hat ihre eigenen Strategien.
Dora II konnte die Stimmung im Zug nicht mehr vergiften. Einige Rekruten bedankten sich bei YAP. Von unten kommen manchmal die besseren Ideen als von oben. Dass Dora I und II nicht sauber sind, war dem Zugführer wohl bewusst. Schliesslich wiesen sie ihre Aufklärer an, Dora diskret zu halten und nicht gross zu zeigen. Vielleicht hätten sie doch den Roman «Codename Dora» (auf Deutsch: «Dora meldet») von Sandor Rado lesen sollen. Schliesslich war Dora dort eine russische Spionin.
Abtransport im Mutterschiff
Nun sind die 18 Wochen der Rekrutenschule vorbei. Dora ist zu wünschen, dass sie nicht im Kinderschänder das Feld räumen musste – so wird der Rucksack im Fachjargon zärtlich genannt. Besser wäre dann schon ein Abtransport im Mutterschiff. Das Mutterschiff? Das ist eine Tasche, die mit Rädern und einer Traghilfe zu einem Rollkoffer umgebaut wird. Warum der Koffer im Militär so heisst? Verraten sei nur, dass es wohl um seinen Kosenamen geht, die neckische Abkürzung. Sie fängt mit dem «Mu» von Mutterschiff an. Raten Sie selbst, worauf die zweite Silbe (Schiff) im modernen Militär verkürzt wird. Manchmal staunt man, was 2024 noch möglich ist.
Die NZZ hat der Armee die Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben. Diese lautet wie folgt: «Die Armeeführung toleriert keine Fälle von Diskriminierung, Sexismus, Belästigung oder anderen Formen der Verletzung der menschlichen Würde und will, dass konsequent dagegen vorgegangen und nicht weggeschaut wird.»
Aufgrund der Anfrage der NZZ führte die Armee ein Belehrungsgespräch mit dem Verantwortlichen. «Dieser hat erkannt, dass die Massnahme nicht den Werten der Schweizer Armee entspricht und übernimmt die Verantwortung. Er hat schriftlich garantiert, solche und vergleichbare Massnahmen in Zukunft zu unterlassen», heisst es in der Stellungnahme.
Der Sprecher weist darauf hin, dass es sich bei der auf den Steinen abgebildeten Figur um die Zeichentrickgestalt Dora the Explorer handelt. Diese wurde aufgrund ihres Namens gewählt (Aufklärer heisst auf Englisch «Explorer»).