Sonntag, November 24

Die FPÖ und ihre mitunter unverhohlenen Sympathien für das «Dritte Reich» nehmen viele als Beleg, Österreich sei noch immer ein Naziland. Der Publizist Franz Schuh demontiert in seinem Beitrag das Klischee.

Dem Nationalsozialismus verdanke ich sehr viel, genauer seinem Verschwinden und seinem schmählichen Ende. Ich bin 1947 geboren – in ein Aufatmen hinein, das meinen Lebensweg bis heute begleitet und gesichert hat. Mein Vater war jemand, den der Jargon triumphierend und derzeit wiederum auch abwertend einen «Antifaschisten» nennt. Ich habe seine Bitterkeit in Erinnerung, mit der er mir einen Aphorismus der Eltern meiner Mutter überlieferte. Der Aphorismus lautete: «Und Hitler wird doch siegen!»

Das Aufatmen in meinem Lebensweg war in der Hauptsache kein bewusster Vorgang. Das Unbewusste mag eine problematische Konstruktion sein. Seine einfachste Dekonstruktion, mit der die positivistischen Psychologen die Studenten bis heute traktieren, lautet: Entweder weiss man etwas, oder man weiss es nicht. «Das Unbewusste» weiss man halt nicht. Wie sollte es da zählen?

Dieses Aufatmen, so gut, so wunderbar es war, hat mir ein vollkommen falsches Weltbild beschert. Unbewusst war ich zum Anhänger eines Theorems geworden, das man «Ende der Geschichte» nennt: Ich war mir sicher, dass wir das Übel, überhaupt alles Übel, hinter uns hätten. Schön langsam jedoch arbeitete ich mich in die Aufklärung meines Irrtums ein. Privat geschah das zum Beispiel mit einer Lektion, die mir eine Mühlenbesitzerin im Waldviertel, eine Boulevardjournalistin, erteilte.

Wohl als Gegengewicht zu ihrem harten Job, war sie auf dem Lande verwurzelt. Sie machte mir anschaulich, was ich ja gleichgültig wusste, dass nicht alle Menschen seinerzeit aufatmeten. Es gab auch welche, die aus freien Stücken zu atmen aufhörten, Selbstmörder, die von den Bäumen im Waldviertel baumelten. Sie starben den «Goebbels-Tod». Das ist eine nekrophile Hinrichtung, die aus dem Kalkül erfolgt, dass ein Leben ohne Hitler keinen Sinn hat, auch für Kinder und Kindeskinder.

Jörg Haiders Ausfälle

In meiner Lebenszeit hatte die Finsternis Wagnerianischer Begräbnisse und Endzeitstimmungen aufgehört. Es gab jedoch eine Wiederkehr nationalsozialistischer Parolen und Stichwörter im hellen Scheinwerferlicht. Der Boulevardjournalismus österreichischer Prägung, der «familiärer», stärker intimisierend ist als zum Beispiel der englische, ging dem Rechtsruck in die Falle: Er machte den Skandal der Wiederbetätigung, der gerade noch im Rahmen der Gesetze stattfand, durch sterile Aufgeregtheit populär.

1991 äusserte Jörg Haider als Landeshauptmann von Kärnten seine Unzufriedenheit mit der Beschäftigungspolitik der Bundesregierung. Haider erwiderte Zwischenrufe aus den Reihen der SPÖ: «Na, das hat’s im Dritten Reich nicht gegeben, weil im Dritten Reich haben sie ordentliche Beschäftigungspolitik gemacht, was nicht einmal Ihre Regierung in Wien zusammenbringt. Das muss man auch einmal sagen!»

Es folgten empörte Zwischenrufe – und da sagte Haider etwas, dessen Bedeutung in der journalistischen Skandalisierung unterging. Haider rief die einstige Hitlerjugend-Mitgliedschaft des Alt-Landeshauptmannes Wagner von der SPÖ in Erinnerung. Er begründete sein Lob des Nationalsozialismus gegenüber den sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten mit den Worten: «Immerhin waren Sie damals so gut ausgestattet, dass höherrangige Hitlerjungen noch vierzig Jahre später Ihre Partei anführten.»

Die nicht wegzulügende Wahrheit ist, dass der ehemalige Landeshauptmann tatsächlich «ein hochrangiger Hitlerjunge» war. Ich habe viele Jahre glücklich an der Universität Klagenfurt unterrichten dürfen. Von einigen Studenten, die ihre Pension auch bei mir im Seminar verbrachten, habe ich erfahren, dass man in Wagners Kärnten nicht einmal Klofrau werden konnte ohne rotes Parteibuch. Nur so viel zum Autoritarismus, in dem verschiedenste Machthaber in Österreich einander ebenbürtig sind.

Ich glaube aber, dass Haider für seinen Angriff auf den Ex-Hitlerjungen auch ein persönliches Motiv hatte. Aus diesem Motiv schöpfte er nicht wenig Kraft für seine politischen Antithesen. Haiders Eltern waren «glühende» Nationalsozialisten, der Vater, ein Krieger bis zum letzten Kriegsmoment.

Die Zeitschrift «Profil» hat zwei Fundamente der Existenz von Vater und Sohn herausgearbeitet: «Der Sohn, Jörg Haider, lebte im Bann dieser Geschichte und gründete seine politischen Erfolge nicht zuletzt auf die Verstrickung der Kriegsgeneration in die Verbrechen dieser Zeit und ihre untergründige Wirkung auf die Gesellschaft.» Im «Profil»-Artikel ist auch zu lesen: «Einer Besucherin aus den USA soll Robert Haider im Jahr 1955 gestanden haben, er bereue nichts und würde der Sache wieder dienen.»

Jörg Haider quälte, und zwar zu Recht, dass eine Masse alter Nazis in den Parteien untergekrochen war und dort Karriere machte. Haiders Eltern hingegen waren Aussenseiter, weil sie ihre Integration der wichtigsten aller heldischen Eigenschaften opferten: dem «Idealismus», der Treue. Die Treue ist im Führerstaat das Höchste, weil sie die persönliche, also unverbrüchliche Bindung an die Herrschaftsordnung bezeugt.

Die treu gebliebenen Nationalsozialisten teilten sich in solche, die «nichts bereuten», weiter in solche, die bereuten (obwohl sie offen sagten, dass sie gar nichts wussten), und in die alten Herrn bei den Neonazis. Hin und wieder gibt diese Szene ein Lebenszeichen, jüngst bei einem Begräbnis mit dem Absingen eines Liedes, das der SS auch als Treuelied diente.

Freispruch für Schlächter

Ich bin ein sentimentaler Mensch und war gerührt über eine Performance Friedrich Peters. Peter war SS-Obersturmführer gewesen, und zwar bei einer Einheit, die Tausende jüdische Menschen ermordet hatte. Mein Vater pflegte über die SS verzweifelt-spöttisch zu sagen: «Na, was haben die denn schon gemacht? Die waren nur zum Blumengiessen im KZ.»

Von Mord und Totschlag wusste Friedrich Peter natürlich nichts, es musste unbemerkt an ihm vorübergegangen sein, wahrscheinlich überhaupt an der ganzen SS. Aber so weit wagte sich Friedrich Peter in seiner Funktion als Bundesparteiobmann der FPÖ (von 1958 bis 1978) nicht hervor. Er rührte mich im Gegenteil mit einer Aussage, mit der er der Republik Österreich seinen Dank dafür aussprach, dass sie ihn und seinesgleichen in die Demokratie aufgenommen hat.

Der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky ist mit ihm sogar eine Art Koalition eingegangen. Ich gehöre zu den Leuten, die ein Urheberrecht für den Witz beanspruchen, dass Kreiskys erste Regierung mehr Nazis hatte als die Regierung von Arthur Seyss-Inquart, dem «Reichsstatthalter der Ostmark».

Ein gewisser Franz Murer, «der Schlächter von Wilna», wurde angeklagt, viele, sehr viele Menschen in den Tod geschickt zu haben. In einem Prozess wurde er 1963 freigesprochen. Beobachter berichteten, so steht es im Lexikon, dass «die Söhne des Angeklagten jüdische Zeugen verhöhnten». Ein Teil der österreichischen Öffentlichkeit habe seinen Freispruch bejubelt. Murers Habitus und seine Justiz sind durch einen Film aus dem Jahr 2018 hervorragend dokumentiert: «Murer – Anatomie eines Prozesses».

Einer der entsetzlichsten Verbrecher des Nazi-Regimes war ein «echter Wiener», der heute weltberühmt ist: Amon Leopold Göth. Göth war ein mörderischer Lagerkommandant, der nach Belieben Menschen «abknallte» und «umlegte». Weltberühmt wurde er durch Steven Spielberg, denn Göth kommt in «Schindlers Liste» vor. Ich war in einer Nachmittagsvorstellung im Kino, in das man zur Aufklärung eine Schulklasse geführt hatte. Die jungen Menschen kreischten vor Vergnügen, wenn Göth auf der Leinwand wieder einmal ein paar Unschuldige tötete.

Halbe Wahrheiten und ganze Lügen

Dass Österreich das erste Opfer Hitlers war, ist eine Halbwahrheit, die man gerne als eine ganze Lüge entlarvt. Seit der Rede des damaligen Bundeskanzlers Franz Vranitzky vom 8. Juli 1991 ist die Halbwahrheit als ganze Lüge überflüssig geworden: «Viele», sagte Vranitzky im Parlament, «haben Widerstand geleistet und dabei ihr Leben für Österreich gegeben. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass es nicht wenige Österreicher gab, die im Namen dieses Regimes grosses Leid über andere gebracht haben, die teilhatten an den Verfolgungen und Verbrechen dieses Reichs.»

Der Heldenplatz in Wien war der zentrale Ort, an dem sich vordergründig und zugleich symbolisch das historische Unheil abzuspielen begann. Vor 200 000 Menschen, die ausser sich vor Begeisterung waren, sagte Hitler pathetisch seine Phrase auf: «Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich!»

Ernst Jandls Gedicht «wien : heldenplatz» ist der österreichischen Nation eingeschrieben, die Jörg Haider 1988 eine «ideologische Missgeburt» genannt hatte. Die erste Strophe von Jandls Gedicht lautet: «der glanze heldenplatz zirka / versaggerte in maschenhaftem männchenmeere / drunter auch frauen die ans maskelknie / zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick / und brüllzten wesentlich.»

Das wesentliche Brüllzen dokumentiert der propagandistisch aufgenommene Film von Hitlers Rede. Der Film zeigt aber nicht, wie im Hintergrund der massenhaften Begeisterung Menschen ebenso massenhaft zu Opfern der neuen Herrschaft wurden.

Die Auslandspresse hat eine Zeitlang österreichische Publizisten gern gehabt, die Österreich im Thomas-Bernhard-Sound als «Naziland» kennzeichneten. Es gab aber, wie es Vranitzky sagte, den Widerstand einer Minderheit und eine Vielzahl von Opfern. Auch für den heutigen Rechtsruck gilt, dass es nur ein Teil der Österreicher ist, die in ihm zu sich selbst kommen. «So sind wir!» – durchaus in Wirklichkeit, aber nur zum Teil.

Franz Schuh ist ein österreichischer Schriftsteller und Publizist.

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