In bestimmten Landschaften hat sich der Mensch schon immer wohlgefühlt. Das hat auch damit zu tun, dass sie ihm das Überleben sicherten.
Leserfrage: Immer wieder hört man von Kraftorten, an denen besondere Energien vorkommen sollen. Ist wirklich etwas an diesen Orten wirksam?
Auch Schweiz Tourismus ist auf den Zug aufgesprungen und vermarktet sogenannte Kraftorte: Ein Wasserfall im Kanton Freiburg, eine Kirche in Graubünden und ein Rundweg auf dem Stanserhorn gehören angeblich dazu. Es sollen «Zonen mit erhöhter natürlicher Energie» sein, ist auf der Tourismus-Website zu lesen. Auf dem höchsten Punkt des Stanserhorns etwa sollen sich «von drei Seiten gebündelte Grundstrahlen» sammeln. Was diese Strahlung ist, bleibt schleierhaft.
Auf unterschiedlichen Websites zu Kraftorten wechseln sich die Erklärungen des Phänomens beliebig ab. Mal ist von Quantenphysik die Rede, dann soll eine besondere Erdstrahlung gemäss der Skala eines Physikers aus dem 19. Jahrhundert gemessen werden können. Andererseits will man Kraftorte per Pendeln und Wünschelruten erfassen, oder sie werden als rein kulturgeschichtliches Phänomen bezeichnet.
Keine Evidenz vorhanden
Frage daher an den Geophysiker Hansruedi Maurer von der ETH Zürich: Gibt es aus naturwissenschaftlicher Sicht so etwas wie Kraftorte? «Wissenschaftlich ist da gar nichts dran», gibt dieser die klare Antwort. Es gebe keinerlei Evidenz für irgendwelche Felder oder Energien besonderer Art an diesen Orten. Auf der Erde wirkten überall verschiedene Kräfte wie das Erdmagnetfeld, die Erdanziehungskraft und elektromagnetische Felder. Wenn diese an verschiedenen Orten unterschiedlich ausgeprägt seien, habe das vor allem mit der geografischen Lage und beispielsweise allfälligen Metallvorkommen im Boden oder gerade vorherrschenden Wetterphänomenen zu tun – aber nichts mit Kraftorten.
Wenn Kraftort-Promotoren bisweilen behaupteten, es handle sich um bisher nicht messbare Kräfte, sollten sie auch nicht das etablierte wissenschaftliche Vokabular der Physik mit Begriffen wie Wellen, Energien, Feldern und Schwingungen benutzen. «Das erzeugt nur Verwirrung», sagt Maurer: «Sinnvoller wäre, von Wohlfühlorten zu sprechen. Es ist doch gar nicht nötig, diese physikalisch zu vermessen.»
Die Evolution lässt grüssen
Dieser Ansicht ist auch Nicole Bauer, Umweltpsychologin an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft. Sie untersucht in ihrer Forschung die gegenseitige Beeinflussung von Mensch und Umwelt. Ihr fällt auf, dass es sich bei Kraftworten oft um spektakuläre Naturschauplätze handelt, an denen etwa Wasser vorhanden und ein guter Überblick über die Landschaft gegeben sei. «Insofern weisen diese Orte genau jene Merkmale auf, die von der Evolution her wichtig waren fürs Überleben des Menschen», so Bauer. Und wo der Mensch sein Überleben als gesichert empfindet, kann er entspannen und geniessen. «Kein Wunder, ziehen uns solche Orte natürlicherweise an.»
Auch sonst entsprechen sogenannte Kraftorte gemäss der Umweltpsychologin auffallend oft den Kriterien für Landschaften, in denen sich Menschen gemäss Befragungen und Experimenten besonders wohlfühlen und gut erholen können: Landschaften eben, die uns natürlicherweise faszinieren. «Sie ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, ohne dass wir uns anstrengen und darauf konzentrieren müssen», sagt Bauer. «Das wirkt erholsam.»
Vom Ritus zur religiösen Stätte
Dass die behaupteten Kraftorte neben spektakulären Landschaften oft bei kulturell bedeutsamen Stätten wie Kapellen und Klöstern zu finden sind, überrascht Bauer ebenfalls nicht. Es passe zur evolutionären Erklärung: Auch frühere Kulturen hätten sich von spektakulären Naturschauplätzen angezogen gefühlt, dort vermutlich Riten durchgeführt und später religiöse Stätten errichtet. Vor diesem evolutionären und kulturellen Hintergrund ist erklärbar, dass die meisten Menschen an denselben Orten das grösste Wohlbefinden spüren.
Und dann kommt noch der Placeboeffekt hinzu: Wenn gesagt wird, dass sich auf dem Stanserhorn der «Punkt mit der maximal fühlbaren Kraftwirkung» bei der südöstlich gelegenen Feuerstelle befinde, gehen wir schon mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit dorthin. «Entsprechend gross ist die Chance, dass ich in mir etwas Besonderes wahrnehme», so Bauer.
Deshalb findet auch Nicole Bauer: «Physikalisch zu messen braucht man da nichts.» Aus psychologischer Sicht sei der Effekt solcher Wohlfühlorte plausibel und nachweisbar: Die Atmung wird langsamer, Blutdruck und Stresshormonpegel im Blut sinken. Die Psychologin Bauer und der Physiker Maurer sind sich einig: Sogenannte Kraftorte machen etwas mit uns Menschen. Pseudowissenschaftliche Erklärungen braucht es dafür aber nicht.