Der Fussballexperte Marcel Reif will nicht als «Vorzeigejude» vereinnahmt werden. Aber über die gegenwärtigen Entwicklungen in Deutschland kann er nicht schweigen.
Neulich sprach Deutschlands bekanntester Fussballkommentator im Bundestag. Zum Gedenken an den Holocaust erzählte Marcel Reif von seinem Vater: «Vater war ein liebevoller, ein guter Opa», sagte der 74-Jährige: «Mindestens einmal in der Woche kam ich mit meinem kleinen Sohn zu Besuch. Es waren wunderbare Stunden.» Nur manchmal sei der Vater kurz in eine kleine Depression verfallen, wurde für ein paar Minuten unerreichbar. «Ich fand das angesichts seines kleinen Enkels unangemessen und war einmal drauf und dran, ihn dafür tadeln zu wollen. Da fuhr meine Mutter dazwischen: Sie machte so eine absolute Handbewegung und sagte: ‹Du weisst ja gar nichts!›»
Jahre später erzählte die Mutter, was Marcel Reif nicht wusste: Der Vater war mit einer Gruppe Juden auf der Flucht gewesen. Dabei hatten sie einen Buben, ungefähr so alt wie sein Enkel, bei polnischen Bauern zurücklassen müssen. Nach der Befreiung wollten sie den Jungen abholen. «Es tut uns leid», sagten die Bauern. «Die Deutschen kamen, und da mussten wir das Kind die Klippe runterwerfen.» Marcel Reifs Mutter sagte: «Manchmal, wenn du mit deinem Sohn bei uns warst, hatte er auch diesen Jungen vor Augen.»
Herr Reif, Ihr Vater Leon – wer war er?
Ein lustiger, lebensfroher, richtig guter Mann. Er war alles, aber er war kein Holocaust-Überlebender. Für mich nicht. Und er hat sich weder als solcher gesehen noch sich als solcher verhalten. Er hat geschwiegen, und er hat dafür gesorgt, dass ich nicht frage. Ich habe dieses Schweigen als Auftrag empfunden. Als Stoppschild auch. Er wollte nicht reden. Und dann bin ich auch nicht derjenige, der redet.
Trotzdem haben Sie nun im Bundestag über ihn gesprochen. Wie kam es dazu?
Irgendwann im Spätherbst kam ein Anruf aus dem Büro der Bundestagspräsidentin. «Nein, das mache ich nicht. Kann ich nicht. Bin ich nicht.»
Sie wollten nicht?
Ich habe gesagt: Ich kann nicht für meinen Vater sprechen. Dann wurde mir erklärt, dass das nicht die Idee sei. Ich solle für mich sprechen, aus der Perspektive der zweiten Generation. Es folgte eine Einladung zum Mittagessen mit der Bundestagspräsidentin, da hat sie mir das noch einmal persönlich auseinandergesetzt. «Ja, gut», dachte ich. «Was soll’s?» Sogar mein Vater hätte wahrscheinlich gesagt: «Putz die Schuhe, mach das. Das ist wichtig.» Der schöne Leon, ein wunderbar eitler Fatzke war das: Schuhe waren wichtig. Die Hemden hat er selber gebügelt, die durfte meine Mutter nicht einmal anfassen.
Sie haben also zugesagt.
Ja, und dann hiess es: «Der Bundespräsident wird da sein, der Bundeskanzler kommt, der gesamte Bundestag, diese und jene Ehrengäste.» «Nein, nein, hören Sie auf! Sonst mache ich es nicht.» Ja, und dann hältst du immer abends, bevor du einschläfst, im Kopf die Rede.
Musste die Rede am Ende noch abgenommen werden?
Von meiner Frau wurde sie abgenommen.
Ihr Auftritt hat ein grosses Echo hervorgerufen.
Gerade vorhin auf dem Roller: Ich halte an der Ampel, eine Frau kommt auf mich zu, bedankt sich. Einmal, zweimal, ein drittes Mal: «Herzlichen Dank!» Ich fahre los. Beim Vorbeifahren ruft ein Mann: «Danke für die Rede.» Das bedient natürlich alle Eitelkeiten. Drei Tage und Nächte habe ich Post beantwortet. Alle möglichen Leute haben mir geschrieben, vom einfachen Handwerker bis zu Parteivorsitzenden. Das hat mich unendlich berührt. Aber! Mir ist bewusst: Ich hole mir jetzt den Applaus ab für meinen Vater. Er hat das Copyright. Ich wollte mich nie wichtig machen als Sohn eines Holocaust-Überlebenden. Manches, was jetzt aus dieser Rede gemacht wurde, das ist zu viel. Das ist ungehörig.
Wieso stören Sie sich an dem grossen Echo?
Da komme ich mit dem Leid meines Vaters – was masse ich mir an? Und dann mache ich mich im Bundestag auch noch wichtig neben jemandem wie Frau Szepesi, die Auschwitz überlebt hat. Sie hat Dinge erlebt, die kann ich nicht einmal in schlimmsten Albträumen erahnen. Aber statt dass man mit Frau Szepesi spricht, spricht man jetzt mit mir. Weil ich der Fussball-Fuzzi bin. Mit mir können Sie sich gerne über den FC Bayern und seine Probleme in der Innenverteidigung oder auf der rechten Seite unterhalten. Das ist selbst erarbeitetes Zeug.
Ihr Vater war jüdisch, die Mutter Katholikin. Wann haben Sie angefangen, sich als jüdisch zu verstehen?
Bis heute nicht. Ich bin kein wertvolles Mitglied der jüdischen Gemeinde. Alles, was ich an Jüdischem mitbekommen habe, habe ich sehr gern genommen. Ich habe das in mir. Und ich werde das niemals, auch nur eine Sekunde, leugnen. Aber ich bin in keinem Klub. Ich werde mich nicht billig zum Vorzeigejuden machen. Sie sind einer der letzten Journalisten, mit denen ich die Absicht habe, mich so auszumären. Ich merke, wie ich anfange, zum Handlungsreisenden zu werden. Das ist unerhört.
Die Vergangenheitsaufarbeitung in Deutschland . . .
Vergangenheitsbearbeitung, nicht -aufarbeitung.
Die Vergangenheitsbearbeitung kann man auch kritisch sehen. Ist sie nicht zu einem Ritual geworden?
Ja, der Holocaust wird immer mehr zu einem Datum. «Nie wieder» gilt aber 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Wenn das nicht ankommt, ist es vergebene Liebesmüh. Vergangenheitsbewältigung ist übrigens ein noch «schöneres» Wort. «Wir bewältigen die Vergangenheit.» Ja, Glückwunsch. Fragen Sie mal meinen Vater und den Rest meiner Familie, wie gut das zu bewältigen ist. Aber ich will es nicht schlechtmachen: So eine Veranstaltung im Bundestag ist gut und richtig.
Aber es reicht nicht.
Nein, und deswegen fand ich ja, wie mein Vater das gemacht hat, im Nachhinein geradezu heldenhaft. Er hat mir nicht den Holocaust beigebracht. Sondern er hat mir beigebracht, was zu diesem Holocaust geführt hat oder was an Menschlichkeit gefehlt hat.
Über das Erlebte hat er sich ausgeschwiegen, aber er hat Ihnen beigebracht: «Sei ein Mensch.»
Genau. Ich könnte mich hinsetzen und meinen Kindern die Greuel, die meine Mutter mir dann doch noch erzählt hat, weitererzählen. Was wäre damit gewonnen? Es muss nicht alles über die Leichenberge gehen. Es muss nur darum gehen, dass es nicht sechs Millionen Juden waren, sondern sechs Millionen Mal ein Mensch.
Wie jüdisch war Ihr Vater?
Zwei-, dreimal im Jahr ging er in die Synagoge, so nach dem Motto: Was, wenn doch was dran ist? Er kochte ausserdem brillant an den Festtagen. Seine gefillte Fisch! Ich rieche heute noch, wie es in der Küche gerochen hat. Ich sehe den Karpfen vor mir in der Badewanne schwimmen. Der Karpfen: Das war nicht lustig. Da habe ich verdrängen gelernt.
Wenn Schulfreunde gefragt haben, was Ihre Religion sei – was haben Sie geantwortet?
Damals wurde noch nicht so ein Bohei gemacht. Für mich wurde keine Extraklasse gegründet. Es gab protestantisch und katholisch, das war’s. Nein, in der Kindheit war das kein Thema. Später, als ich längst beruflich unterwegs war, wurde ich manchmal dies und jenes gefragt. Und irgendwann Ende der 1970er Jahre – das ist einer der schlimmsten Sätze, die ich von meiner Mutter je gehört habe – sagt sie zu mir: «Musst du immer erzählen, dass der Papa Jude ist?» Wie wenig hatte sie dem Braten getraut?
Sie hatte Angst, dass Ihnen Ihr Judentum zum Nachteil gereichen könnte?
Ja. Wie tief muss da etwas sitzen? Mir gefällt auch nicht, was mein erwachsener Sohn letzte Woche gesagt hat: «Jetzt hältst du solche Reden, und dann bist du in Berlin, fährst mit der S-Bahn – meinst du, das gefällt jedem, so eine Rede?»
Macht er sich Sorgen um Ihre Sicherheit?
Ja, und wir reden hier von Deutschland 2024. Ich will es nicht dramatisieren, bitte nicht. Aber wie soll ich das finden? Ich finde es gespenstisch. Dass wir uns in Deutschland wieder so vor Antisemitismus fürchten müssen, das muss meinen Vater im Grab rotieren lassen.
Es gab die Documenta, die BDS-Bewegung. Ist nicht schon lange ersichtlich, wie sich der Antisemitismus in Deutschland wieder breitgemacht hat?
Ich habe versucht, das zu «vereinzeln», ich dachte: «Documenta? Ja, gut, aber die haben richtig vor die Schnauze gekriegt. Das wurde nicht weggequatscht, sondern es gab Zunder. Wie es sich gehört für so etwas.» Davor war der rechtsextreme Anschlag auf die Synagoge in Halle, auch da denkst du: «Das ist ein Einzelfall.» Und dann merkst du: Falsch. Du hast auch einen Fehler gemacht. Als du gefragt wurdest, hast du nicht gesagt: «Moment mal, ich glaube, hier rollt was. Hier stolpert nicht nur der Einzelne, sondern hier rollt richtig was.»
War aber nicht schon lange vieles übersehen worden?
Jeder Zeitpunkt ist falsch, den man verpasst. 2015 habe ich am Bahnhof in München gestanden und hatte Tränen in den Augen. Weil ich gesehen habe, wie Menschen anderen Menschen Brote schmierten. Aus Ungarn kamen diese Züge mit den Flüchtlingen damals. Und ich sehe diese Hilfsbereitschaft, diese Solidarität, dieses Menschlichsein. Das war guter Wille. Nur, gut gewollt ist nicht die hübscheste Schwester von gut gemacht. Das war ein Moment, wo in Deutschland vieles verpasst wurde.
Wie meinen Sie das?
«Wir schaffen das» ist eine wunderbare Idee. Das war nicht einfach nur Politik auf Wählerfang. Die Kanzlerin hat als Mensch gehandelt. Aber von einer Staatsführung muss ich verlangen können, dass sie weiss, was sie tut. Und dass sie abwägt, was sie zu leisten in der Lage ist. Deutschland hat sich auch übernommen.
Offensichtlich.
Nach dem 7. Oktober haben viele ihre Masken fallengelassen. Natürlich sind nicht alle AfD-Anhänger Nazis, und natürlich sind auch nicht alle propalästinensischen Demonstranten Hamas-Freunde, die Mörder und Vergewaltiger feiern. Da sind viele, deren Anliegen kann ich sofort teilen. Oder meinen Sie etwa, mir gefallen die Bilder aus Gaza? Viele, die da auf die Strasse gegangen sind, sind guten Willens gegangen. Und dann ist das aus dem Ruder gelaufen. Dann sind Dinge passiert, da hat dieser Staat versagt. Es sind Dinge auf deutscher Strasse geschehen, da hört jedes Abwägen auf.
Muss härter durchgegriffen werden?
Zünden Sie sich doch mal in einer Flughafenhalle eine Zigarette an. Machen Sie das. Das dauert keine Minute, da haben Sie das Gefühl, wir leben in einem Polizeistaat. Da bricht die Hölle los. Dann können Sie aber, bitte, auch nicht auf der Strasse «nieder mit Israel» brüllen und Antisemitismus verbreiten.
Von Polen über Tel Aviv nach Zürich
sca. Marcel Reif ist 1949 in Walbrzych, Polen, geboren. Er war acht Jahre alt, als die Familie – nach einem Umweg über Tel Aviv – nach Kaiserslautern zog. Die vergangenen rund zwanzig Jahre lebte der Fussballexperte in der Schweiz. Weil er sich so wohlfühlte im Land, nahm er die Schweizer Staatsbürgerschaft an und gab den deutschen Pass ab. Seit ein paar Monaten wohnt Reif nun wieder in Deutschland. Wegen seiner Frau ist er nach München gezogen. Die schweizerische Zurückhaltung und das «zwinglianische Zürich mit seinem Sechseläuten» vermisst er. «In Zürich ist der Böögg das Höchste an Radau, was man sich leistet.» Da Reif für Blue Sport als Experte tätig ist, fährt er weiterhin regelmässig in die alte Heimat. Wir haben uns auf einer Zugfahrt von München nach Zürich getroffen.