Donnerstag, Dezember 26

Als Kolumnist der «New York Times» kommentiert David Brooks das politische Geschehen in seinem Land. Geradeso gern befasst er sich mit menschlichen Beziehungen und Gefühlen. Diese zu schulen, sei in unserer Gesellschaft nötiger denn je.

Kürzlich gab David Brooks eine Wahlempfehlung für Nikki Haley ab, die republikanische Präsidentschaftskandidatin. 2016 schrieb er, dass er Barack Obama vermisse. Dann wieder denkt er darüber nach, «wie man in brutalen Zeiten gesund bleibt». Seit über zwanzig Jahren schreibt Brooks eine Kolumne für die «New York Times», als deren konservative Stimme er gilt. Brooks, einer der einflussreichsten amerikanischen Publizisten, vermag zu überraschen. In seinen Büchern «Das soziale Tier» oder «Charakter» fordert der 62-Jährige eine moralische Wende. Er stellt dem heutigen Individualismus Werte wie Demut, Spiritualität und Gemeinschaftssinn gegenüber, so auch in seinem neuen Buch «How to Know a Person». Weltweit bekannt wurde Brooks 2001 mit «Die Bobos», der Schilderung des Lebensstils einer neuen Elite. Der Begriff des «bourgeois Bohémien» geht auf ihn zurück. Beim Online-Gespräch trägt Brooks für einmal nicht Anzug und Krawatte. In farbigem Hemd und Pullover sitzt er vor der Kulisse seiner Bücher bei sich zu Hause in Washington. Er strahlt etwas Schüchternes aus.

Herr Brooks, in Ihrem neuen Buch plädieren Sie für die Kunst, andere zu sehen und von ihnen gesehen zu werden. Und zwar in ganzer Tiefe. Sie schildern eine Szene, wie Sie Ihre Frau anschauen, die versunken in der offenen Haustür steht. Was erkannten Sie in diesem Moment?

Sie stand im Licht des späten Nachmittags im Türrahmen, ihre Gedanken schienen anderswo zu sein, aber ihre Augen ruhten auf einer Orchidee. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass ich sie kenne. Wirklich kenne, ohne dass Worte reichen würden, sie Ihnen zu beschreiben. Es war ein Fliessen ihres ganzen Wesens, eine Art Musik, die sie umgab.

Wann fühlen Sie sich von ihrer Frau gesehen?

Meine Frau weiss, dass ich am Morgen nicht reden mag, bevor ich nicht meine tausend Worte geschrieben habe. Sie passt also auf, dass sie nicht in mein Büro kommt. Sie weiss, wenn ich kurz davor bin, wegen des Stresses in eine Spirale negativer Gefühle zu geraten. Es heisst, bevor man heirate, könne man mit der Illusion leben, dass man leicht zu ertragen sei. Aber wenn man erst einmal verheiratet ist, weiss man, dass es nicht einfach ist, mit einem zu leben. Es braucht von meiner Frau viel Nächstenliebe.

Es ist dieses Verständnis für den andern, das Sie vermissen: sich auf ihn einzulassen, sich in ihn hineinzuversetzen. Wie zeigt sich das?

Schauen Sie sich die amerikanische Politik an. Ich nenne es eine Epidemie der Blindheit. Die Schwarzen fühlen sich von den Weissen nicht mehr gesehen, Linke wollen mit Rechten nichts zu tun haben, Republikaner und Demokraten begegnen sich mit Unverständnis. Zum andern erleben wir in den USA eine soziale Krise.

Woran erkennen Sie das?

Immer mehr Menschen leiden an Depressionen. Jugendliche fühlen sich traurig und hoffnungslos. Zwischen 1999 und 2019 ist die Suizidrate in den USA um 33 Prozent gestiegen. Die Zahl der Amerikaner, die sagen, dass sie keine nahen Freunde hätten, hat sich in den letzten dreissig Jahren vervierfacht. Der gesellschaftliche Zusammenbruch wird begleitet von einem Mangel an Empathie. Und da ist noch ein privater Grund.

Erzählen Sie.

Ich selber wollte menschlicher werden, und so habe ich mich mit diesem Buch auf eine Reise begeben. Ich war ein verschlossener Typ, gute Beziehungen zu anderen fehlten in meinem Leben. Ich hatte Gefühle, aber es gab keinen Highway zwischen meinem Herzen und meinem Mund, ich konnte sie nicht ausdrücken. Ich fühlte mich auch unbehaglich, wenn mir jemand seine Gefühle zeigte.

Sie sind in einer jüdischen Familie aufgewachsen und später zum Christentum konvertiert. Sie nennen Ihre Sozialisation eine Ursache für Ihre Gefühlsblindheit. Wie haben Sie Ihre Kindheit erlebt?

In Filmen wird oft ein Bild der warmherzigen, lauten jüdischen Familien gezeichnet. Man umarmt sich, singt, tanzt, lacht und weint zusammen. Meine Familie war anders. Die Kultur bei uns könnte man mit den Worten «Think Yiddish, act British» zusammenfassen. Man war reserviert, hatte eine steife Oberlippe, wie die Engländer sagen. Schon als Junge war ich andern gegenüber distanziert. Ich hatte aber keine schlechte Kindheit. Die Liebe wurde nur nicht so offen gezeigt.

In Ihrem Buch bringen Sie Ihren starken Glauben an das Gute im Menschen zum Ausdruck. Dann kam der 7. Oktober. Entkräften die Hamas-Massaker nicht Ihre These?

Als das Buch herauskam, dachte ich tatsächlich, es würde untergehen. Wer will jetzt noch über gute zwischenmenschliche Beziehungen lesen? Doch dann sagten mir Leute, dass es für sie genau zum richtigen Zeitpunkt erschienen sei.

Waren Sie selber verunsichert angesichts Ihres Idealismus?

Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Am 7. Oktober war ich auf Reisen, es war spät in der Nacht, und ich sass an der Hotelbar. Ich scrollte durch mein Telefon, gelangte auf X und sah die Bilder aus Israel. Ein schreckliches Bild reihte sich ans andere. Ich war wütend und entsetzt. Doch dann stiess ich auf ein kurzes Video mit dem schwarzen Schriftsteller James Baldwin aus den 1960er Jahren. Darin sagt er: «Es gibt nicht so viel Menschlichkeit in der Welt, wie man es sich wünschen würde. Aber es gibt genug davon. Die Welt wird durch die Liebe von wenigen Menschen zusammengehalten.» Man kann zu diesen Menschen gehören. Oder man kann zum Monster werden. Man muss sich jeden Tag entscheiden, wer man sein will.

Ist unser Wille wirklich so stark?

James Baldwin hätte in seinem Leben allen Grund gehabt, verbittert zu sein, er bekam als Schwarzer zur damaligen Zeit viel Hass zu spüren. Dennoch weigerte er sich, seine Menschlichkeit zu verlieren. Er praktizierte einen trotzigen Humanismus. Die Vereinigten Staaten sind in den letzten zehn Jahren hässlich geworden. Am 7. Oktober bekamen wir ein Zeugnis von der Boshaftigkeit des Menschen. Umso mehr sollten wir einander nicht dämonisieren. Wir müssen trotzig menschlich sein.

Dennoch klingt der Ansatz Ihres Buchs naiv, wenn man sieht, wie es auf der Welt zugeht. Was macht Sie so zuversichtlich?

Die moderne Kultur ist übermässig pessimistisch. Machiavelli hielt den Menschen für betrügerisch, undankbar und habgierig. Die klassische Wirtschaftswissenschaft geht davon aus, dass jeder Mensch Eigeninteressen verfolgt. Auch eine Mehrzahl der jungen Erwachsenen in den USA glaubt, dass die meisten nur an sich selbst denken. Doch der Mensch ist grosszügiger als das.

Was macht Sie so zuversichtlich?

Ich komme aus der westlichen religiösen Tradition, die glaubt, dass die Menschen zutiefst selbstlos sind. Wir sind egozentrisch, aber wir sind auch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Das gilt für das Judentum, das Christentum, den Islam und alle grossen Religionen. Wir werden zwar nie in einer Welt ohne Gewalt, Hass und Krieg leben. Aber wir können es besser machen. Psychologische Experimente zeigen, dass die Leute sehr wohl bereit sind, zu teilen mit denen, denen es nicht so gut geht.

Sie glauben an die Selbstverbesserung des Menschen. Man arbeitet an sich und muss sich angeblich nur etwas bemühen, um glücklich zu werden. Diesem Denken liegt ein Machbarkeitsglaube zugrunde, wie er für die Glückspsychologie typisch ist, die ihren Ursprung in den USA hat. Ist das für den Einzelnen nicht eine Überforderung?

Sie mögen recht haben, dass es etwas Amerikanisches hat, sich selbst zu optimieren, als wäre man ein Produkt. In den USA sind Ratgeber wie «Die Kraft des positiven Denkens» populär. Dennoch halte ich den Wunsch, sich moralisch zu bilden und respektvoll miteinander umzugehen, für universell. Alle Moralphilosophie beschreibt den Versuch, ein besserer Mensch zu werden. Kunst, Musik und Literatur helfen einem dabei. Sie haben im Deutschen das Wort «Herzensbildung».

Sie unterscheiden zwischen zwei Typen: Der eine Typus bringt andere zum Leuchten, er interessiert sich für sie, sie fühlen sich gesehen. Der andere Typus gibt dem Gegenüber das Gefühl, unbedeutend zu sein. Wo gehört Donald Trump hin?

Donald Trump ist ein klassischer Narzisst. Er kann sich nicht in andere einfühlen. Er kontrolliert seine Umgebung, indem er die Leute manipuliert, damit sie so handeln, wie er es will. Dennoch bin ich überzeugt, dass Trump, wenn ich ihm ein paar persönliche Fragen stellen würde, ausserordentlich nett wäre. Er versteht es, seinen Zuhörern das Gefühl zu geben, dass sie Teil eines Abenteuers und einer Gemeinschaft sind. Dieser Mann versteht sie, wie sie kein anderer Politiker versteht. Davon fühlt sich vor allem die Arbeiterklasse angesprochen. Donald Trump hat die Fähigkeit, Menschen, die sich unsichtbar fühlen, das Gefühl zu geben, gesehen zu werden.

Vielleicht beherrscht Trump eben doch eine Form von Empathie. Empathie ist ja nicht nur gut. Denn wer sich in einen andern hineinversetzen kann, nimmt dessen Ängste und Bedürfnisse vorweg. So kann er darauf mit Trost und Ermutigung, aber auch abwertend reagieren. Macht Menschenkenntnis manipulativ?

Als ich bei der «New York Times» anfing, erhielt ich oft böse E-Mails von Leuten, die mich nicht mochten. Sie waren in dem Sinn einfühlsam, dass sie genau wussten, wie sie mich verletzen konnten. Zu echter Empathie gehört für mich Fürsorge. Donald Trump mag die Leute verstehen. Aber er sorgt sich nicht um sie.

Dem Mitgefühl sind Grenzen gesetzt. Man müsste die leidende Person sein, um sie wirklich zu verstehen. Wie kann man aufrichtig am Leiden anderer Anteil nehmen?

Der Rabbi Elliot Kukla beschrieb einmal eine Frau mit einer Gehirnverletzung, die manchmal in seiner Synagoge zu Boden fiel. Die Menschen um sie herum beeilten sich, sie sofort wieder auf die Beine zu stellen. Es war ihnen unangenehm, eine Erwachsene auf dem Boden liegen zu sehen. Die Frau aber sagte zu Kukla: «Was ich wirklich brauche, ist jemand, der sich zu mir auf den Boden legt.» Das ist für mich echtes Einfühlungsvermögen. Ich kümmere mich um dich, auch wenn es unangenehm ist.

Von wem fühlen Sie sich noch gesehen, abgesehen von Ihrer Frau?

Ich war zweimal zu Gast bei Oprah Winfrey, der Talkmasterin. Sie ist weltberühmt, ein Superstar. Sie bringt einen dazu, sich zu öffnen, man fühlt sich aufgehoben bei ihr. Vollkommen. Im Gespräch mit ihr reagiert ihr Gesicht auf alles, was man sagt. Man verbrennt nahezu Kalorien, weil man ihr so genau zuhören will.

Sie äussern sich immer wieder kritisch zur Woke-Kultur. Nach dem 7. Oktober zeigte sich, wie die Ideologie die amerikanischen Elite-Universitäten unterwandert hat. Dagegen formiert sich Widerstand. Sind Wokeness und Cancel-Culture am Ende?

Ich habe zwanzig Jahre an der Yale University gelehrt. Und ich arbeite für eine sehr progressive «New York Times». Vor drei, vier Jahren passte man auf, was man sagte. Man hatte Angst, seine Meinung zu äussern, weil eine falsche Sicht schnell das Ende einer Karriere bedeuten konnte. Sogar klassische Liberale haben sich mit ihrer Meinung versteckt. Die Atmosphäre heute fühlt sich freier an. Liberale Werte wie die Redefreiheit gelten wieder mehr. Nach dem 7. Oktober ist die Stimmung allerdings wieder angstvoller. Ich bin also nicht sicher, ob der Höhepunkt der Wokeness überschritten ist. Dennoch wird man sich bei der «New York Times» um einen vorurteilslosen Journalismus bemühen. In Yale wird man eher wieder eine Vielfalt von Meinungen zulassen.

Als Journalist haben Sie ein politisches Profil. Geradeso häufig schreiben Sie aber über weiche Themen. Wie kommt das?

Eigentlich langweilt mich Politik. Ich merke es jetzt wieder, da wir in einem Wahljahr sind. Unsere Kultur ist überpolitisiert, während wir zunehmend untermoralisiert, unterspirituell und unterkultiviert sind. Wir verbringen zu viel Zeit damit, über unsere politischen Leader zu sprechen und über sie zu streiten, statt uns über Kultur, Soziologie, Psychologie, Beziehungen und moralische Bildung zu unterhalten. Dies alles halte ich für interessanter als Politik.

Werden Sie von Ihren politischen Gegnern dafür belächelt?

Sie lassen meine Bücher seltsamerweise in Ruhe. Aber einige dürften schon Mühe haben mit jemandem, der in der Öffentlichkeit so moralisiert und so selbstgerecht wirkt, wie ich es wohl manchmal tue.

Sie gelten als der konservative Liebling der Liberalen. Mögen Sie den Titel?

Das ist besser, als wenn einen niemand mag. Ich bin ein Konservativer nicht in einem modernen republikanischen Verständnis. Donald Trump hat mich aggressiver gemacht. Obwohl viele meiner politischen Ansichten konservativ sind, fühle ich mich kulturell den Städtern näher. Ich bin in New York aufgewachsen und in Chicago zur Schule gegangen. Ich habe nie in einem konservativen Teil der USA gelebt. Ich vertrete in vielen sozialen Fragen progressive Werte, etwa bei der Homo-Ehe oder dem Recht auf Abtreibung.

Einigen wir uns auf den gemässigten Konservativen?

Der britische Philosoph Isaiah Berlin hat einmal gesagt, er sei glücklich, den rechtsextremen Rand der linken Bewegung zu besetzen. Wenn das gut genug für Isaiah Berlin ist, ist das gut genug für mich.

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