Donnerstag, Januar 30

Ein Startup aus China versetzt mit einem neuen KI-Modell die westlichen Finanzmärkte in Aufruhr. Das Narrativ, wonach die amerikanischen Tech-Kolosse unverwundbar sind, gerät ins Wanken. Wie sind die Entwicklungen zu deuten?

Im Jahr 2018 machten die Verhaftung der Finanzchefin von Huawei, Meng Wanzhou, in Kanada und das anschliessende Verbot der USA, hochwertige Halbleiter nach China zu exportieren, aus dem «Handelskrieg» von Donald Trump einen «Technologiekrieg». Zu dieser Zeit waren die USA eindeutig der Meinung, dass sie einen komparativen Vorteil auf dem Feld der Technologie haben und dass es sinnvoll ist, wenn sie eine Schlacht gegen China führen müssen, die Technologie als Schlachtfeld zu wählen.

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Im September 2021 erklärte US-Handelsministerin Gina Raimondo: «Wenn wir Chinas Innovationstempo wirklich bremsen wollen, müssen wir Europa einbeziehen», und verwickelte Europa damit in einen kalten Krieg, den die meisten europäischen Unternehmen – nicht zuletzt der niederländische Halbleiterzulieferer ASML – lieber vermieden hätten.

Elektrofahrzeuge, Batterien, Drohnen – und jetzt KI?

Seitdem hat China in den Bereichen 5G-Mobilfunk, Hochgeschwindigkeitszüge (mit neuen Zügen, die 450 km/h fahren), Elektrofahrzeuge (was neue Handelsschranken in den USA und Europa auslöste), Batterien (weitere Handelsschranken) und Drohnen einen Vorsprung erzielt.

In Anbetracht der Tatsache, dass China gegenwärtig jedes Jahr mehr Studenten in den Bereichen Naturwissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik ausbildet als der Rest der Welt zusammen, schien es immer eine kurzsichtige Strategie zu sein, gegen China in der Technologiebranche zu kämpfen.

Warum sollte China mit all seinem Kapital und seinen Humanressourcen nicht in der Lage sein, mit den technologischen Fortschritten des Westens gleichzuziehen – und sie vielleicht sogar zu übertreffen?

Doch während Chinas Fähigkeit, den Westen bei Autos, Industrierobotern, Solarzellen und Batterien zu überholen, von den Finanzmärkten weitgehend als neue Realität akzeptiert wurde, konnten sich nur wenige Investoren vorstellen, dass China die westlichen Länder auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI) einholen könnte, und schon gar nicht so bald wie 2025.

Doch genau das hat China mit der Veröffentlichung von DeepSeek erreicht, einer Open-Source-KI, die zu einem Bruchteil der Kosten ihrer grösseren, viel gepriesenen Konkurrenten entwickelt wurde. Es ist eine Nachricht, die das an den Märkten vorherrschende Narrativ, China sei aufgrund seines repressiven politischen Regimes unfähig, kreativ zu sein, gründlich infrage stellt.

Eine Ironie bezüglich DeepSeek besteht darin, dass Chinas KI-Lösung die Art von Open-Source-System ist, die das amerikanische Startup OpenAI einst liefern sollte, bis sein Gründer Sam Altman beschloss, die gemeinnützige Organisation in ein gewinnorientiertes Unternehmen umzuwandeln. Das löste eine gehässige Fehde mit Elon Musk aus, einem der ursprünglichen Mitgründer und Geldgeber von OpenAI.

Kannibalismus als einziger Weg zu Wachstum?

Diese Fehde erweckt zunehmend den Eindruck, dass wir die Phase des «Big Tech»-Bullenmarktes erreicht haben, in der die führenden Konzerne kaum eine andere Wahl haben, als sich gegenseitig zu kannibalisieren, um weiter zu wachsen. Diesen Eindruck vermittelte zumindest die Pressekonferenz vom 21. Januar, an der Donald Trump, flankiert von Masayoshi Son von Softbank, Larry Ellison von Oracle und Sam Altman von OpenAI, offen darüber diskutierte, wie man den Kadaver von TikTok zerlegen könnte, obwohl TikTok noch lebt und wenig Neigung zeigt, den Forderungen der USA nachzugeben.

An der gleichen Pressekonferenz stellten Trump und die versammelten Tech-CEOs einen 500 Mrd. $ schweren Plan für KI-Investitionen mit dem Namen Stargate vor. Bis vor wenigen Tagen hätte diese Ankündigung wahrscheinlich eine brüske Rally in Aktien wie Nvidia, Microsoft und anderen US-Mega-Cap-Technologiewerten ausgelöst, die als «KI-Gewinner» gelten. Zumindest sind 500 Mrd. $ an Investitionsausgaben eine gewaltige Zahl.

Tatsächlich stiegen die KI-Werte im Nachgang dieser Nachricht an. Die Rally endete jedoch weit vor den Rekordständen, und bis zum nachbörslichen Handel am Freitagabend hatten die meisten Tech-Aktien, einschliesslich Nvidia und Microsoft, ihre nach der Stargate-Ankündigung erreichten Gewinne wieder abgegeben.

Dieses kollektive Schulterzucken des Marktes könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Veröffentlichung von DeepSeek eine der Grundannahmen des KI-Booms untergräbt: dass die milliardenschweren Investitionen in neue Rechenzentren und KI-Projekte einen immer grösseren Burggraben für US-Technologieriesen schaffen und diese unangreifbar machen wird.

Ein neues «Metaverse»-Fiasko?

DeepSeek hat diese Annahme soeben erschüttert. Jetzt sieht es so aus, als ob sich die Hunderte von Milliarden, die von den amerikanischen Tech-Giganten ausgegeben werden, im Grunde genommen nie auszahlen werden – das «Metaverse»-Fiasko in neuem Gewand, nur grösser.

Das markiert eine wichtige Verschiebung in den Marktnarrativen. Im Grunde hat DeepSeek die KI-Blase mit einer Nadel angestochen, und die Luft wird nun entweichen. Das wirft die Frage auf, ob die Deflation der KI-Blase ein konzentriertes Marktphänomen bleiben wird, mit Namen wie Nvidia, die isoliert auf den Boden der Realität zurückkommen, oder ob sie sich auf den breiteren Markt auswirken wird, mit einem tieferen Nasdaq, einem schwächeren Dollar und stärkeren US-Staatsanleihen (sprich: sinkenden Zinsen).

In den vergangenen Wochen habe ich in Kundengesprächen oft die nachstehende Grafik gezeigt, um zu veranschaulichen, was für eine aussergewöhnliche Hausse die US-Wachstumsaktien in den letzten gut 15 Jahren erlebt haben. Die Überperformance der US-Wachstumsaktien begann während der Finanzkrise von 2008, als die Bewertungen am Boden lagen.

Die Hausse hatte zunächst zwei wichtige Triebkräfte: die Einführung des ersten Apple-Smartphones und die Schieferöl-Revolution in den USA, die dazu führte, dass die USA plötzlich günstigere Energiekosten hatten als fast alle anderen Länder und eine Verbesserung ihrer Handelsbilanz erwarten konnten.

Im Jahr 2015 wurde den Anlegern klar, dass die Renditen aus Investitionen in die US-Energieindustrie wahrscheinlich enttäuschen würden, und die Märkte gerieten für kurze Zeit in Turbulenzen. Aber die Kombination aus dem «Schanghai-Abkommen» und dem Versprechen der Deregulierung und Steuersenkungen in der ersten Amtszeit von Donald Trump brachte die Dinge wieder ins Rollen.

Bis 2021 war der Markt in eine typische «Blow off»-Phase eingetreten, die von purer Albernheit geprägt war: die GameStop-Saga, der Anstieg der Meme-Aktien, Heimtrainer mit iPads, die mit einer Marktkapitalisierung von 49 Mrd. $ gehandelt wurden, Ausgaben für das Metaverse, etc. Dann, im Jahr 2022, entwich die Luft aus vielen der fadenscheinigsten Ideen und der ungeheuerlichsten Schneeballsysteme, und der Markt bereinigte sich. Bis dahin verlief die Hausse also wie aus dem Lehrbuch: rund zehn Jahre solide Überperformance, ein paar Jahre Überschwang, dann die Implosion.

Das Narrativ der amerikanischen Tech-Dominanz wankt

Was nicht im Lehrbuch stand, waren die hintereinander folgenden, sehr starken Jahre 2023 und 2024. Diese beiden Jahre mit beeindruckenden Renditen, die von einer Handvoll Mega-Cap-Aktien aus dem amerikanischen Tech-Sektor angeführt wurden, führten dazu, dass die breiten Marktindizes konzentrierter waren als je zuvor in der Geschichte.

Und was war der Katalysator für diesen Aufschwung? Die Veröffentlichung von ChatGPT und die plötzliche Begeisterung der Investoren über alles, was direkt oder indirekt mit KI zu tun hat.

Das alles bringt mich zurück zur Veröffentlichung von DeepSeek und den folgenden Fragen.

1. Hat KI einen Dotcom-Moment erreicht?

Ende der 1990er-Jahre wurden Hunderte von E-Commerce-Plattformen von eifrigen Risikokapitalgebern finanziert. Als Pets.com und andere Dotcom-Unternehmen im Jahr 2000 zu scheitern begannen und ihnen das Geld ausging, gerieten Konzerne wie Lucent und Sun Microsystems, die ihre Produkte auf Kredit an schnell wachsende Kunden verkauft hatten, plötzlich an zwei Fronten in grosse Schwierigkeiten. Erstens verkauften ihre ehemaligen Kunden ihr Equipment für einen Bruchteil der Einkaufskosten, weil sie händeringend versuchten, sich Liquidität zu verschaffen. Zweitens stellten die Kunden die Zahlungen ein, die sie schuldeten.

Könnte sich die Geschichte wiederholen, aber dieses Mal mit scheiternden, von Risikokapitalgebern finanzierten KI-Unternehmen, die ihre hochpreisigen Nvidia-Chips liquidieren, die sie noch vor wenigen Monaten aus Angst vor Engpässen eilig gekauft hatten?

2. Wenn der KI-Boom ins Stocken gerät, was wird dann die Nachfolge antreten?

Es gibt derzeit viele andere spannende Themen: der Aufstieg des autonomen Fahrens, die chinesischen Konjunkturprogramme, die Deregulierung in den USA, die positiven Auswirkungen steilerer Zinsstrukturkurven auf Finanzwerte. Einige dieser Themen konzentrieren sich auf die USA. Andere weniger.

3. Wenn die nächste «neue Sache» nicht in den USA stattfindet, was bedeutet das für den Dollar?

In der vergangenen Woche gab der Dollar einen Teil seiner jüngsten Gewinne wieder ab. Der Umschwung des Greenback hing wohl mit Trumps nachgiebiger Haltung gegenüber Importzöllen zusammen. In Anbetracht der Nachrichten über DeepSeek ist das jedoch vielleicht nicht so überraschend. Wenn China in der Lage ist, eine effizientere KI zu sehr niedrigen Kosten zu entwickeln, stellt dies viele der jüngsten Annahmen über den Bedarf an sehr hochwertigen Chips, einem wichtigen komparativen Vorteil der USA, infrage.

Was auch immer der Grund sein mag, Tatsache ist, dass der Dollar und die relative Performance von US-Wachstumsaktien im vergangenen Jahr stark korreliert haben. Wenn also, was ich für wahrscheinlich halte, der Nasdaq aufgrund der DeepSeek-Nachrichten an Wert verliert, wird der Dollar angesichts der jüngsten Trends höchstwahrscheinlich folgen.

Abschliessend möchte ich darauf hinweisen, dass eine der Merkwürdigkeiten des KI-Bullenmarktes seine Kapitalintensität ist. Bis vor ein, zwei Jahren bestand eine der Hauptattraktionen von Technologieunternehmen (neben dem starken Wachstum) darin, dass ihre Geschäftsmodelle kapitalschonend («capital light») waren (siehe Gavekals Buch «Our Brave New World» von 2005).

Doch das Thema KI stellte diese These auf den Kopf. Plötzlich schien der Markt darauf erpicht zu sein, Chiphersteller zu grotesk hohen Bewertungen zu kaufen, ausgehend von der Prämisse, dass die Tech-Welt nun eine höhere Kapitalintensität als ein Stahlwerk oder eine Ölraffinerie aufweisen würde.

Open Source und kapitalschonend: So sollte es sein

Positiv zu vermerken ist, dass DeepSeek die Technologie wieder zu dem macht, was sie sein sollte: Open Source und kapitalschonend. Das ist eine Ironie des Schicksals, denn das Unternehmen stammt aus China, wo Wachstum nach landläufiger Meinung immer kapitalintensiv ist und die Politik alles andere als offen ist!

Am wichtigsten ist vielleicht, dass DeepSeek die Vorstellung zerstört, dass die Kontrolle des gesamten Tech-Ökosystems durch einige wenige amerikanische Tech-Titanen zwar sozial schädlich sein mag, aber zumindest den technologischen Fortschritt fördert und sicherstellt, dass die USA technologisch führend bleiben.

Mit diesem jüngsten Sputnik-Moment hat der Tech-Krieg zwischen China und den USA, zwischen Open Source und geschlossenen Systemen und zwischen kapitalschonenden und kapitalintensiven Modellen gerade eine sehr interessante Wendung genommen.

Louis-Vincent Gave

Louis-Vincent Gave ist CEO von Gavekal Research, die er gemeinsam mit Charles Gave und Anatole Kaletsky 1999 in London ins Leben gerufen hatte. Im Jahr 2002 verliess er das Londoner Büro und kehrte nach Hongkong zurück, wo er zuvor als Finanzanalyst für Paribas gearbeitet hatte. Louis hat einen Bachelor-Abschluss von der Duke University, und an der Nanjing University hat er Mandarin studiert.
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