Am Samstag um 15 Uhr starten die Schweizer Fussballer in Köln gegen Ungarn in die Europameisterschaft. Eine Frage bleibt zentral: Wie stark setzt der Trainer Murat Yakin auf seinen Freigeist Xherdan Shaqiri?

Murat Yakin steht am Freitagmorgen in der Mitte des Platzes im Stadion auf der Waldau in Stuttgart, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Beine gedehnt. Der Schweizer Nationaltrainer beobachtet seine Mannschaft beim Warm-up. Es wird viel gelacht unter den Spielern, die Stimmung ist locker, es ist die Ruhe vor dem Sturm – und vielleicht einer der letzten Momente, die Yakin vor der Fussball-EM für sich allein hat. Ein halbes Dutzend Journalisten und ein paar Fotografen sind beim Abschlusstraining der Schweizer eine Viertelstunde dabei, bis sie das Stadion verlassen müssen.

Vielleicht hat Yakin seinen Fussballern in diesem Training vor dem ersten EM-Spiel am Samstag gegen Ungarn letzte taktische Instruktionen erteilt. Wofür wird sein Team in den nächsten Wochen oder zumindest Tagen stehen? Für stürmisches Offensivspiel eher nicht, dafür ist der Trainer Yakin zu pragmatisch, zu vorsichtig, zu resultatorientiert. Der Mensch Yakin wiederum ist ein Gambler und einer, der sich auf sein Bauchgefühl und sein Netzwerk verlässt, wenn es um Beziehungen geht, um Geschäfte, um Mitarbeiter. Es ist eine faszinierende Kombination, und entgegen vieler Vorbehalte und einiger Auftritte und Resultate im letzten Jahr hat es Yakin ja geschafft, die Schweiz auch an der EM 2024 betreuen zu dürfen.

Shaqiris Werbestunde in eigener Sache

Es ist am Freitagmorgen ungewöhnlich frisch in Stuttgart, 15 Grad, Spätherbstklima. Ganz anders als 18 Jahre und einen Tag vorher, als das Schweizer Nationalteam nur wenige Kilometer entfernt in Stuttgart bei fast 30 Grad mit einem starken 0:0 gegen Frankreich in die Fussball-WM 2006 startete.

Das Wetter ist gerade eine Wundertüte. Das gilt in gewisser Hinsicht auch für Yakins Auswahl. Sie ist heuer im neuen System mit einer Dreierkette in der Abwehr stabil: ein Gegentor in vier Testspielen. Sie ist aber auch harmlos im Angriff: null Stürmertore. In Yakins System, 3-4-3 oder 3-5-2, sind mindestens sieben Feldspieler keine Offensivkräfte. Diese Aufstellung kann bei einem Turnier zielführend sein. Die Schweiz ist wohl keine Mannschaft, gegen die man als EM-Favorit in einem Achtelfinal spielen möchte.

Bis dahin müssten die Schweizer aber die Vorrunde überstehen. Dafür braucht es Tore. Sorgen bereiten der Oberschenkel von Breel Embolo, dem besten Stürmer im Team, sowie die Wade von Steven Zuber, dem auffälligsten Spieler im Testspiel gegen Estland (4:0). Embolo dürfte gegen Ungarn als Joker zur Verfügung stehen, Zuber kaum. Die Aushängeschilder im sehr erfahrenen Nationalteam sind andere: der Goalie Yann Sommer, der Abwehrchef Manuel Akanji und der Captain Granit Xhaka, die einen im Stadion auf der Waldau auf einem Plakat willkommen heissen.

Und Xherdan Shaqiri ist ja auch noch da. Er nutzte einen Medienauftritt am Donnerstag zur Werbestunde in eigener Sache. Shaqiri war souverän, schlagfertig, selbstbewusst. Und er liess keine Zweifel offen, dass er sich auch in seinem bereits siebenten Turnier in der Lage sieht, für die speziellen Schweizer Momente zu sorgen. Yakin dagegen könnten die defensiven Mängel Shaqiris, die angeblich lausigen Fitnesswerte und die vielleicht fehlende Spritzigkeit beunruhigen.

Shaqiri ist trotz allem immer noch jener Schweizer, dem man am ehesten zutraut, gegen Ungarn eine besondere Aktion zu präsentieren. Zwar überzeugte er während seiner mittlerweile zweieinhalb Saisons in den USA selten. Aber für die schwachen Resultate seines Vereins Chicago Fire machte er am Donnerstag seine Vorgesetzten verantwortlich, wegen ihrer angeblich ungenügenden Transferpolitik. Der 32-jährige Shaqiri verdient in drei Saisons in der Major League Soccer mehr als zwanzig Millionen Franken – das zeugt tatsächlich nicht von einer guten Transferpolitik Chicagos.

Xherdan Shaqiri CRAZY Goals

Wie wichtig ist ein guter Start ins Turnier wirklich?

All das wird an diesem Samstag keine Rolle spielen. Shaqiri genügt womöglich ein Freistoss oder eine Schussgelegenheit aus 16 Metern – und er schlüpft erneut in die Rolle des Helden. «Wichtig wird wie immer sein, wie wir ins Turnier kommen», sagte Shaqiri.

Hört sich logisch an, ist aber nicht ganz korrekt, weil die Schweizer zum Beispiel an der letzten EM ungenügend ins Turnier gestartet waren (1:1 gegen Wales, 0:3 gegen Italien) und ein paar Tage später den Weltmeister Frankreich im Achtelfinal mit einer heroischen Darbietung schlugen. Anderseits kamen die Schweizer an der WM 2010 mit einem 1:0-Sieg gegen den späteren Weltmeister Spanien sehr gut ins Turnier rein – und schieden trotzdem bereits in der Vorrunde aus.

Solch ein 1:0 gegen Ungarn würde ganz gut zu Murat Yakin und diesen Schweizern passen. Statistisch gesehen sollte man ohnehin nicht auf viele Tore wetten: In der Neuzeit gewann die Schweiz von elf Startspielen an Welt- und Europameisterschaften seit der WM 1994 viermal und verlor nur einmal – bei einem Torverhältnis von 9:6. Das sind solide Werte, zuletzt resultierte an der WM 2022 unter Yakin ein 1:0-Sieg gegen Kamerun. Torschütze: Embolo.

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