Dienstag, Oktober 8

Messungen der Hubble-Konstante liefern nicht den Wert, den man theoretisch erwartet. Das könnte daran liegen, dass man die Entfernung von nahen Galaxien systematisch unterschätzt hat.

Die Erkenntnis, dass sich das Universum ausdehnt, ist alt. Sie geht auf den Astronomen Edwin Hubble zurück. In den 1920er Jahren beobachtete er, dass Galaxien umso schneller von uns wegstreben, je weiter sie entfernt sind. Auch hundert Jahre nach dieser bahnbrechenden Entdeckung gibt es allerdings keinen Konsens darüber, wie schnell sich das heutige Universum ausdehnt. Glaubt man den genauesten Messungen, ist die Expansionsrate, die sogenannte Hubble-Konstante, fast 10 Prozent grösser, als es die Theorie nahelegt.

Diese sogenannte Hubble-Spannung ist ein ernstes Problem. Sie wird von Kosmologen als möglicher Hinweis gewertet, dass das Standardmodell der Kosmologie die Entwicklung des Universums seit dem Urknall unzureichend beschreibt. Es scheint eine Ingredienz zu fehlen, die die Expansion antreibt.

Drei unabhängige Messungen der Hubble-Konstante mit dem James-Webb-Weltraumteleskop relativieren nun allerdings die Zweifel am Standardmodell der Kosmologie. Vielmehr sieht es so aus, als hänge die Expansionsrate des Universums davon ab, wie man sie misst. Das deutet darauf hin, dass die bisherigen Messungen systematische Fehler aufweisen.

Kosmische Entfernungen zu messen, ist eine Kunst für sich

Die treibende Kraft hinter den neuen Messungen ist die Astronomin Wendy Freedman von der University of Chicago. Freedman ist eine Veteranin auf diesem Gebiet. In den 1990er Jahren leitete sie ein Schlüsselprojekt des Hubble-Weltraumteleskops. Das Ziel lautete damals, die Hubble-Konstante mit einer Genauigkeit von 10 Prozent zu messen. Das setzt voraus, dass man die Entfernung von weit entfernten Galaxien präzise messen kann.

Astronomen benutzen verschiedene Methoden, um kosmische Entfernungen zu messen. Manche dieser Methoden eignen sich für kurze Distanzen, andere eher für mittlere und grosse. Die Kunst besteht darin, diese Methoden so zusammenzustückeln, dass man wie mit einer Leiter immer grössere Höhen erklimmen kann.

Freedman und ihre Mitarbeiter verwendeten damals sogenannte Cepheiden, um die untersten Sprossen der kosmischen Entfernungsleiter zu kalibrieren. Diese veränderlichen Sterne pulsieren mit einer Frequenz, aus der sich ihre absolute Helligkeit berechnen lässt. Vergleicht man diese mit der scheinbaren, auf der Erde wahrgenommenen Helligkeit, lässt sich ermitteln, wie weit die Muttergalaxien der Cepheiden von der Erde entfernt sind. Auf der so kalibrierten Entfernungsleiter kann man sich dann Sprosse für Sprosse zu weiter entfernten Galaxien hangeln und messen, wie schnell sich diese durch die Expansion des Universums von der Erde wegbewegen.

Die von Freedman entwickelte Methode zur Messung der Hubble-Konstante wurde vom Nobelpreisträger Adam Riess und seinen Mitarbeitern perfektioniert. Das vor zwei Jahren veröffentlichte Ergebnis lautet: 73 km/s pro Megaparsec. Das bedeutet: Mit jedem Megaparsec (das entspricht 3,26 Millionen Lichtjahren) nimmt die Fluchtgeschwindigkeit von Galaxien um 73 Kilometer pro Sekunde zu.

Der von Riess angegebene Messfehler ist kleiner als 1,5 Prozent. Man könnte das als riesigen Erfolg werten – wäre da nicht das Problem, dass die gemessene Expansionsrate stark von den theoretischen Erwartungen abweicht. Im Jahr 2013 hatten Kosmologen mit dem europäischen Planck-Teleskop die kosmische Hintergrundstrahlung vermessen, die 380 000 Jahre nach dem Urknall emittiert wurde.

Ausgehend von dieser Momentaufnahme, lässt sich mit dem Standardmodell der Kosmologie extrapolieren, dass das Universum heute – also fast 14 Milliarden Jahre später – mit einer Rate von 67,4 km/s pro Megaparsec expandieren sollte. Selbst wenn man beide Augen zudrückt, lässt sich das im Rahmen des Messgenauigkeit nicht mit dem Resultat von Riess vereinbaren. Und bis anhin weiss niemand, wie diese Diskrepanz zu erklären ist.

Wendy Freedman macht einen Schritt zurück

Ausser vielleicht Wendy Freedman. In den letzten Jahren hat die Astronomin einen Schritt zurück gemacht und neue Wege eingeschlagen, die kosmische Entfernungsskala zu kalibrieren. Der Grund dafür ist der folgende. Cepheiden findet man vornehmlich in der Scheibe von Galaxien. Hier tummeln sich viele Sterne, die teilweise so eng beieinander stehen, dass sich ihr Licht für einen weit entfernten Beobachter überlagert. Ausserdem wird die Sicht auf diese Sterne oft durch Gas und Staub getrübt. Das sind mögliche Quellen für systematische Messfehler.

Freedman hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, die Cepheiden-Methode durch unabhängige Messungen zu überprüfen. Im Rahmen des Carnegie-Chicago-Hubble-Programms hat sie mit dem James-Webb-Teleskop zehn nahe gelegene Galaxien ins Visier genommen, die neben Cepheiden zwei andere Entfernungsindikatoren enthalten.

Zum einen sind das rote Riesensterne, die kurz davor stehen, das Helium in ihrem Kern zu verbrennen. In diesem Stadium der Sternentwicklung erreichen diese Sterne eine intrinsische Helligkeit, die mehr oder weniger unabhängig von ihrer Zusammensetzung und ihrer Vorgeschichte ist. Der Vergleich mit der scheinbaren Helligkeit erlaubt deshalb Rückschlüsse auf ihre Entfernung. Ähnliches gilt für Sterne, die in ihrer Entwicklung bereits weiter fortgeschritten sind und mit Kohlenstoff angereichert sind. Beide Sterntypen findet man auch in den Randbereichen von Galaxien, wo es weniger Sterne gibt und der Staub nicht so dicht ist wie in der Scheibe.

In einer beim «Astrophysical Journal» eingereichten, aber noch nicht begutachteten Publikation beschreiben Freedman und ihre Mitarbeiter das Ergebnis ihrer mehrjährigen Analyse. Die mit den beiden neuen Methoden gemessenen Distanzen der zehn Galaxien stimmen sehr gut miteinander überein. Sie sind durch die Bank weg grösser als die Distanzen, die mit der Cepheiden-Methode ermittelt wurden.

Messungen der Hubble-Konstante sind nicht konsistent

Diese Unterschiede in der Entfernungsmessung übertragen sich auf die gemessene Expansionsrate des Universums. Die beiden neuen Methoden liefern Werte für die Hubble-Konstante, die im Rahmen der Messgenauigkeit mit dem Standardmodell der Kosmologie verträglich sind. Die Cepheiden-Methode liefert hingegen einen deutlich zu grossen Wert – ähnlich wie die Messung von Riess, der ebenfalls Cepheiden für die Kalibrierung der Entfernungsskala nutzt.

Das Fazit lautet deshalb, dass die Messungen der Hubble-Konstante kein konsistentes Ergebnis liefern. Die Expansionsrate des heutigen Universums scheint davon abzuhängen, wie man die kosmische Entfernungsleiter kalibriert. Das deutet auf systematische Messfehler in mindestens einer der Methoden hin.

Bevor man die Gründe für diese Unterschiede nicht versteht, gibt es keinen zwingenden Grund, das Standardmodell der Kosmologie infrage zu stellen – zumal es derzeit keine überzeugende Alternative gibt. Es sei schwierig, die Hubble-Spannung mit neuer Physik zu erklären, sagt der Kosmologe Martin Kunz von der Universität Genf. «Wenn wir ein vernünftiges theoretisches Modell hätten, wären sicher viele Kosmologen schon darauf umgestiegen.»

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