Mittwoch, April 30

Der norwegische Schriftsteller Jon Fosse definiert sich und sein Werk durch den Gebrauch der altertümlichen Zweitsprache Nynorsk, die er als Ausdruck der Seele des Volkes versteht. Dumm nur, dass immer weniger Leute Interesse haben, Nynorsk zu sprechen.

Der Nobelpreisträger Jon Fosse ist nicht zu stoppen. Kaum hat er den 1150 Seiten starken Roman «Heptalogie» vollendet, wird auch schon sein 32. Stück «Einkvan» (Jemand) am Norwegischen Theater in Oslo uraufgeführt. Das Norwegische Theater ist Trutzburg und Tempel der ruralen Nynorsk-Bewegung in der Hauptstadt.

Seit über 150 Jahren stehen einander in Norwegen zwei Standards der Schriftsprache fast unversöhnlich gegenüber. Im weitaus grössten Teil des Landes dominiert Bokmål, ein modifiziertes Dänisch – bis 1814 war Norwegen Teil des Königreichs Dänemark. Nynorsk indes, das an der südwestnorwegischen Küste den Ton angibt, wurde vom Philologen Ivar Aasen (1813–1896) aus kernigen Dialekten gezimmert. Nach damaligem Verständnis artikulierte sich die Seele des Volkes in seiner Sprache.

Personifikation einer Sprache

Jon Fosse schreibt ein moderat konservatives Nynorsk. Sein neues Stück heisst im Original «Einkvan». Dieses Pronomen war schon 2013, wie die Sprachsendung des norwegischen Radios damals berichtete, «im Begriff, aus dem Sprachgebrauch auszuscheiden». «Einkvan» (jemand): «Lass dir das Wort auf der Zunge zergehen. Es ist so poetisch», schreibt der Premieren-Kritiker der Zeitung «Aftenposten». In der Tat: Adäquat übersetzbar ist dieses Wort mit seinen Zwischentönen nicht. «Die Bühne ist jenseits der Wirklichkeit, das ist diese Sprache auch», sagt Fosse. Gerade das Artifizielle des Idioms schafft für ihn den idealen ästhetischen Raum.

Jon Fosse will seinen Literaturnobelpreis ausdrücklich auch als «Preis für das Nynorsk» verstanden wissen. Er ist die Personifikation dieser Sprache. Fosse habe Nynorsk zu einer Weltsprache gemacht, twitterte der Ministerpräsident, die Kulturministerin sagte, der Nobelpreis werde Nynorsk stärken.

Aber stimmt das wirklich? Nynorsk sei eine Sprache für Lyriker, nicht für Juristen, behauptet jetzt ein Rechtsanwalt in einem Essay, betitelt mit «Nynorsk kann eine Gefahr für die Rechtssicherheit sein». Etliche Fachbegriffe könne er nur mithilfe eines Wörterbuchs verstehen. Nynorsk sei deshalb aus dem Gesetzeswerk zu verbannen – wogegen die Politik die Rechtssprache Nynorsk zu stärken versucht.

Nynorsk steht unter Druck. Wählten 1945 30 Prozent der Grundschüler Nynorsk als «Hauptsprache», so sind es 2024 noch 11,4 Prozent. Die Hälfte von ihnen wechselt in den weiterführenden Schulen zu Bokmål. Droht Fosse am Ende die Leserschaft abhandenzukommen?

Das überflüssigste Fach der Welt

Der Slogan «Fuck Nynorsk» prangte vor den landesweiten Schulwahlen auf Plakaten über der Silhouette des Sprachschöpfers Ivar Aasen. Für viele Schüler, die Aasens Idiom als «Nebensprache» lernen müssen, ist Nynorsk das überflüssigste Fach der Welt.

Doch Aasen lebt: Am Norwegischen Theater feierte kürzlich ein Musical Premiere, das sich um seine Person und seine Sprache rankt. Hauptaktionärin dieses Theaters ist nach wie vor die Bauernjugend. Ein Komödienstadel ist es aber nicht. Hier inszenierten Robert Wilson oder Luk Perceval.

Als das Theater 1913 eröffnet wurde, wähnten Bokmål-Enthusiasten die Hegemonie ihrer Kultur bedroht. Gymnasiasten griffen Abend für Abend das Theater an, das von Bauernburschen verteidigt wurde. Mal ums Mal lief der Regisseur mit einem Gong auf die Bühne und rief, er verbitte sich Missfallensbekundungen. Die Verwaltungsratspräsidentin Hulda Garborg vermerkte in ihrem Tagebuch Stinkbomben und einen Auflauf von 10 000 bis 12 000 Demonstranten.

Neunzig Jahre später wollte die Gruppierung Freunde des Norwegischen Theaters mit einer Gedenktafel an dessen Gründung erinnern. Allein, der Verein, der Oslos kulturhistorische Tafeln verwaltet, war nicht bereit, eine Inschrift auf Nynorsk zu tolerieren. Alle anderen 250 kulturhistorischen Tafeln der Hauptstadt trügen Bokmål-Inschriften. Doch Geduld bringt Rosen. Vor zwei Jahren wurde eine Hulda Garborg gewidmete Gedenktafel enthüllt – mit der Inschrift auf Nynorsk.

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