Der Nachrichtendienst des Bundes brauche mindestens 150 zusätzliche Leute, fordert sein Direktor. Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb der Dienst nicht auf der Höhe der Zeit ist.
Nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges musste sich die Schweiz monatelang intensiv auf eine mögliche Energiekrise vorbereiten. Mitten in dieser angespannten Stimmung tauchte auf verschiedenen Social-Media-Kanälen das Bild eines Plakates auf, das angeblich vom Bund stammte.
Zu sehen war unter dem offiziellen Behörden-Logo des Bundes eine junge Frau am Telefon, dazu die Zeile: «Heizt der Nachbar die Wohnung über 19 Grad auf? Bitte informieren Sie uns. Anonym.» Angegeben war eine Telefonnummer mit einer 058er-Vorwahl, die ins Energiedepartement führte. Das Bild tauchte in russischsprachigen Telegram-Kanälen auf und ging rasch viral. Sogar offizielle Medien in Russland und die weissrussische Nachrichtenagentur nahmen die Meldung auf.
Bloss: Das aufsehenerregende Bild war gefälscht. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich beim Fake-Plakat um einen Teil einer russischen Beeinflussungskampagne gehandelt hat. Die steigenden Energiepreise waren in jenen Wochen 2022 laut dem European Digital Media Observatory ein weitverbreitetes Thema von Desinformationskampagnen in Europa.
Hürden müssen «eliminiert werden»
Das Beispiel ist kein Einzelfall: Seit Jahren warnt der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) vor solchen Kampagnen. Gewappnet ist die Schweiz dagegen allerdings keineswegs. Eine Studienkommission Sicherheitspolitik, die vom Verteidigungsdepartement eingesetzt wurde, kam in ihrem im Sommer veröffentlichten Bericht zum Schluss, die Schweiz müsse solchen Beeinflussungsversuchen mehr Beachtung schenken.
Zwar werde die direkte Demokratie als resilienter angesehen als andere Staatsformen, heisst es in dem Bericht, der unter Federführung der politischen Philosophin Katja Gentinetta verfasst wurde. Doch insbesondere die russische Propaganda erreiche über soziale Netzwerke und andere Medien grosse Teile der Öffentlichkeit. Aktiv sind auch Iran und China.
Tatsächlich verfügt der NDB heute über keine genügende gesetzliche Grundlage, um Beeinflussungsversuche zu erfassen, nachzuverfolgen und zu bekämpfen. Er dürfe heute «Indizien in den meisten Fällen nicht nachgehen, wenn sie das Territorium der Schweiz betreffen und keinen direkten Bezug zu verbotenem Nachrichtendienst aufweisen», so der NDB. Das Nachrichtendienstgesetz (NDG) zählt diesen Bereich nicht einmal explizit zum Aufgabengebiet des Dienstes. Diese Hürden müssten «eliminiert werden», verlangt die Studienkommission.
Erklären lassen sich solche Defizite unter anderem mit dem gebrochenen Verhältnis der Schweizer Öffentlichkeit und Politik zum Nachrichtendienst. Das NDG stammt aus einer Zeit, in der sich die geopolitischen Umwälzungen der letzten Jahre erst teilweise und in Umrissen abzeichneten.
Beim Gesetz stand islamistischer Terror im Vordergrund
Der Bundesrat legte dem Parlament die Botschaft zu dem Gesetz im Februar 2014 vor – präzise einen Monat bevor Russland die Krim annektierte und der Ost-West-Konflikt eine neue Dimension erreichte. In der Debatte zum Gesetz waren Russlands Aggression und deren Folgen jedoch kein Thema. Im Vordergrund stand damals der islamistische Terrorismus.
Zusätzlich geprägt wurde die Diskussion von der Fichenaffäre der 1980er Jahre, die in der Schweiz jahrelang zu einer tief verwurzelten Abneigung gegen jegliche staatliche Überwachung führte. Nach dem Auffliegen der Fichenaffäre wurde selbst die Observation des Telefonverkehrs potenzieller Terroristen verboten.
Mit den islamistischen Anschlägen in Europa ab Mitte des vergangenen Jahrzehnts setzte erstmals ein zaghafter Meinungsumschwung ein. Im Vergleich zu anderen Ländern bleiben die Möglichkeiten des NDB trotz dem neuen Gesetz aber nach wie vor begrenzt. Im internationalen Tauschgeschäft um nachrichtendienstliche Informationen hat die Schweiz deshalb oft einen schwierigen Stand, wie Fachleute regelmässig betonen.
Der Reflex aus der Zeit der Fichenaffäre war auch spürbar, als Anfang 2022 eine jahrelange unrechtmässige Praxis des Ressorts Cyber des NDB publik wurde. Die parlamentarische Aufsicht sprach damals von einem «Nachrichtendienst im Nachrichtendienst». Doch die Untersuchung von alt Bundesrichter Niklaus Oberholzer widerlegte dieses Bild später.
Bürokratie erschwert Abwehr von Cyberangriffen
Bei der problematischen Praxis ging es nicht um geheime Überwachungen, welche eine Gruppe von NDB-Mitarbeitern im Verborgenen veranlasst hatte. Vielmehr tat das Ressort Cyber, was Nachrichtendienste, IT-Sicherheitsfirmen und Anbieter von Onlinediensten weltweit standardmässig tun: Es tauschte Informationen über Akteure aus, die Cyberangriffe planen oder durchführen.
Schweizer Internetanbieter lieferten im Rahmen dieser Kooperation auch Angaben darüber, mit welchen IP-Adressen Schweizer Server in der Hand von Cyberkriminellen oder feindlichen Staaten kommunizierten. Diese Informationen können dazu dienen, mögliche Opfer im In- oder Ausland zu warnen, befreundeten Staaten zu helfen oder gar die Personen oder Gruppen hinter den Operationen zu enttarnen.
Doch dieses unkomplizierte und rasche Vorgehen ist nicht mehr möglich. Seit Anfang 2021 hat der NDB diese Praxis eingestellt, weil die gesetzliche Grundlage ungenügend ist. Seither müssen die Cyberexperten des Nachrichtendienstes für ihre Überwachungen Gesuche schreiben und richterlich bewilligen lassen, die sogenannten «Gebems», weil es sich um eine genehmigungspflichtige Beschaffungsmassnahme (GEBM) handelt.
Solche GEBM sind Beschaffungsmassnahmen, bei denen die Grundrechte stark betroffen werden und die besonders missbrauchsanfällig sind. Die Telefon- und Postüberwachung oder das Eindringen in einzelne Computer oder ganze Netzwerke gehören zum Beispiel dazu. Die Genehmigungspflicht ist ein Schutz der Betroffenen vor übermässiger Überwachung. Für den NDB bedeutet er vor allem Mehraufwand.
Gewalttätige Extremisten dürfen nicht abgehört werden
Die geänderte Praxis schlägt sich auch in der Statistik nieder. 2022 tauchen in der jährlichen NDB-Statistik genehmigungspflichtige Beschaffungsmassnahmen im Bereich «Angriffe auf kritische Infrastrukturen» auf – zum ersten Mal seit dem Inkrafttreten des Nachrichtendienstgesetzes 2017.
Der NDB hat damals offensichtlich begonnen, Server eines staatlichen Akteurs zu überwachen, die in der Schweiz standen. Die Operation lief auch 2023 noch weiter. Es dürfte sich um eine russische Gruppe handeln, die für Angriffe auf kritische Infrastrukturen bekannt ist – eine Bedrohung, die mit dem Ukraine-Krieg grösser wurde. Der NDB beschreibt in seinem Lagebericht vom Oktober, wie Cybereinheiten der russischen Nachrichtendienste Server in der Schweiz zur Durchführung von Angriffen einsetzen.
Der NDB ist bei der Überwachung von Schweizer Servern, die ausländische Geheimdienste für ihre Cyberoperationen verwenden, nun im Nachteil. Er braucht für jede Infrastruktur eine richterliche Genehmigung, während die Angreifer aus Russland oder China ihre Server rasch wechseln können.
Das aufwendige Verfahren bei der Jagd auf staatliche Hacker wird noch einige Jahre bestehen bleiben. Die neue Grundlage für die Cyberabwehr kommt erst in der zweiten Etappe einer geplanten NDG-Revision, wie der Bundesrat im September beschlossen hat. Die neuen Bestimmungen werden realistischerweise kaum vor 2028 oder 2029 in Kraft treten.
Doch es gibt weitere Defizite: So darf der Nachrichtendienst heute auch weder Telefone von gewalttätigen Extremisten abhören noch ihre Wohnungen verwanzen oder andere genehmigungspflichtige Beschaffungsmassnahmen einsetzen. Bundesrat und Parlament trafen diesen Entscheid vor zehn Jahren ganz bewusst. Es sei nicht einfach, gewalttätigen Extremismus zu definieren, argumentierten sie damals. Dabei schwang die Befürchtung mit, das NDG könnte aus Angst vor Überwachung der politischen Gesinnung auf Ablehnung stossen.
Doch einige Jahre später kippte die Stimmung. Links- und rechtsextremistische Gewalttaten nahmen in dieser Zeit zu. Und mit der Corona-Pandemie und als Folge der geopolitischen Lage – nicht zuletzt im Nahen Osten – ist die Bedrohung erneut grösser geworden. Der Bundesrat schlug deshalb vor, die GEBM auch auf gewalttätigen Extremismus auszudehnen. Bis Ende des kommenden Jahres will er eine Gesetzesvorlage an das Parlament überweisen.
Lücken auch bei der Überwachung von Finanzströmen
Mit derselben Revision soll der Nachrichtendienst auch neue Mittel erhalten, um Informationen über die Finanzströme von Akteuren zu erhalten, die die innere oder die äusserer Sicherheit bedrohen. Heute hat der Dienst nur beschränkte Möglichkeiten, Informationen von Finanzintermediären über die Finanzierung von sicherheitsrelevanten Personen oder Gruppierungen einzuholen.
Wenn der NDB beispielsweise Hinweise erhält, dass eine Organisation Personal rekrutiert, das zur ernsthaften Bedrohung für die Schweiz werden könnte, kann er bei den Banken und Finanzintermediären keine Informationen zu Finanzierung und Vernetzung verlangen. Er ist darauf angewiesen, dass die Institute von sich aus Meldung an die Geldwäscherei-Meldestelle erstatten. Der Bundesrat möchte Gegensteuer und auch hier eine neue Regelung schaffen.
Es steht heute weitgehend ausser Frage, dass das NDG zehn Jahre nach seinem Entstehen überarbeitet werden muss. Wunder dürfen alleine dadurch allerdings nicht erwartet werden. Der Nachrichtendienst ist nur eines von vielen Elementen bei der Gefahrenabwehr.
Für die Eindämmung von Beeinflussungsaktivitäten beispielsweise ist nach Ansicht von vielen Fachleuten eine stärkere Inpflichtnahme von Kommunikationsplattformen mindestens ebenso wichtig. Denn eine Gewissheit bleibt auch in unruhigen Zeiten bestehen: Nur eine ausgewogene Regulierung erhöht die Sicherheit – und schützt gleichzeitig demokratische Prinzipien vor Überwachungsexzessen.