Samstag, Oktober 5

Seit Jahren kursiert in der Schweiz ausländische Propaganda. Nun soll der Nachrichtendienst mehr Kompetenzen zur Bekämpfung erhalten. Das könnte auch die Meinungsäusserungsfreiheit betreffen.

Wie anfällig die Demokratie für unerwünschte Einflussnahme ist, zeigt sich derzeit: Tausende von Unterschriften für Referenden und Initiativen wurden in den letzten Jahren gefälscht und erschlichen. Offenbar nicht selten von Personen, die kaum einen Bezug zur Schweiz haben, so zeigen es Recherchen der TA-Medien. Ob Initiativen und Referenden dank solchen Manipulationen tatsächlich zustande gekommen sind, lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Doch der Vertrauensverlust ist da.

Auch wenn nicht ausländische Geheimdienste hinter solchen Betrugsversuchen stehen: Die Geschichte veranschaulicht die Fragilität demokratischer Strukturen. Die betrügerischen Angriffe auf die Volksrechte passen deshalb gut zu einer der zentralen Schlussfolgerungen, zu der eine vom Bundesrat beauftragte Studienkommission Sicherheitspolitik letzte Woche gekommen ist: Die Schweiz ist zu wenig gegen Beeinflussungsversuche von aussen geschützt.

Zwar werde die direkte Demokratie als resilienter angesehen als andere Staatsformen, heisst es in dem Bericht, den die politische Philosophin Katja Gentinetta verfasst hat. Doch insbesondere die russische Propaganda erreiche über soziale Netzwerke und andere Medien grosse Teile der Öffentlichkeit. Diesem Problem müsse die Schweiz mehr Beachtung schenken: Darin war sich die 21-köpfige Kommission einig.

Ein urinierender Mann geht dank russischer Hilfe viral

Wie subtil auf den öffentlichen Diskurs eingewirkt wird, zeigt ein Beispiel vom letzten September. Damals verbreitete sich auf X und anderen Social-Media-Plattformen ein Video, das angeblich aus Baden stammen soll: Zu sehen war, wie ein dunkelhäutiger Mann vor einem belebten Strassencafé auf den Boden uriniert. Der Film löste riesige Beachtung aus. Hunderttausende Mal wurde er angeklickt und geteilt.

Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) jedoch blieb skeptisch. Er vermutet eine gezielte Beeinflussung durch russische Akteure. Die meisten Konten, die die Verbreitung angetrieben hätten, seien wohl nicht authentisch, heisst es in einem NDB-Rapport, über den die «NZZ am Sonntag» berichtete. Russland nütze das Thema Migration aus, um westliche Staaten zu beeinflussen. Es sei deshalb «eher wahrscheinlich, dass es sich dabei um russische Beeinflussungskonten handelt».

Der Nachrichtendienst macht auf solche Risiken schon seit einiger Zeit aufmerksam. Er erhalte regelmässig Informationen, die auf Beeinflussungsaktivitäten hindeuteten, heisst es im Lagebericht aus dem Jahr 2023. Besonders die chinesischen, iranischen und russischen Dienste sind für solche Aktivitäten bekannt.

Vor den Sommerferien mahnte ein Bericht des Bundesrates jedoch, dass in der Schweiz bis heute keine Strukturen existierten, um «umfassend systematische Beeinflussung im Informationsraum zu erkennen, ihre Absicht und Urheberschaft zu ermitteln und gegebenenfalls darauf zu reagieren». Die Gentinetta-Kommission zielt nun exakt in dieselbe Richtung.

Sensitive Themen unerwünscht

Viele Beispiele der letzten Jahre zeigen, wie aggressiv die Meinung beeinflusst wird, mutmasslich gesteuert durch autokratische Regime:

• Im Herbst 2022 wurde in den sozialen Netzwerken ein gefälschtes Schweizer Plakat verbreitet: Angeblich zahle der Bund eine Belohnung für das Denunzieren von Nachbarn, die viel heizen. Diese Desinformation erschien während intensiver Debatten über eine mögliche Energiekrise in der Schweiz, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg. Das Plakat verbreitete sich rasch über soziale Netzwerke, oft über Fake-Konten, die mit russischen Netzwerken in Verbindung standen.

• Seit langem bekannt ist, wie China versucht, durch Partnerschaften mit westlichen Universitäten und Forschungseinrichtungen Einfluss auf die akademische Welt zu nehmen. Dabei wird oft Druck ausgeübt, um Themen wie die Menschenrechte oder Taiwan möglichst zu unterdrücken. Ein Bericht von Amnesty International zeigte im letzten Jahr zudem, wie auch chinesische Studierende in der Schweiz durch das Regime unter Druck gesetzt werden.

• Iran unterstützt finanziell und ideologisch proiranische Akteure in westlichen Ländern. Es will damit die Aussenpolitik des Westens beeinflussen. Vor diesem Hintergrund sorgte es in der Schweiz für Irritationen, dass an der Universität Zürich eine iranische Gastprofessorin mit engen Beziehungen zur konservativen iranischen Universität der Religionen und Konfessionen (URD) unterrichtete. Ob es im Hintergrund Versuche zur Beeinflussung gab, ist nicht bekannt.

• Russland verbreitete über soziale Netzwerke und andere Kanäle ab 2020 gezielt Desinformation über den Ursprung des Coronavirus, Impfstoffe und die Massnahmen westlicher Regierungen. Dies sollte das Vertrauen in die Regierungen und das Gesundheitssystem untergraben. Auch in der Schweiz griffen Massnahmenkritiker regelmässig auf Informationen von Russia Today zurück. In einigen Ländern ist dieser Dienst verboten.

Kommission will Hürden «eliminieren»

Der NDB verfügt heute jedoch nicht einmal über eine genügende gesetzliche Grundlage, um Beeinflussungsversuche zu erfassen und abzuwehren. «Tatsächlich zählt die Erkennung von Beeinflussungsaktivitäten nicht explizit zum Aufgabengebiet des NDB», bestätigt Lucien Müller, Dozent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Im Nachrichtendienstgesetz ist diese Aufgabe nicht aufgeführt.

Das sieht auch der NDB selbst so. Er dürfe heute «Indizien in den meisten Fällen nicht nachgehen, wenn sie das Territorium der Schweiz betreffen und keinen direkten Bezug zu verbotenem Nachrichtendienst aufweisen». Die Gentinetta-Kommission empfiehlt deshalb, die Rechtsgrundlagen des NDB anzupassen. Die Hürden zur Verfolgung von Beeinflussungsaktivitäten müssten «eliminiert werden».

Schon jetzt steht allerdings fest, dass damit heikle Fragen verbunden sind. In der Gentinetta-Kommission selbst herrschte keine absolute Geschlossenheit in Bezug auf die Frage, wie weit der NDB gehen können soll. Laut dem Polizeirechtsexperten Müller könne die Informationsbearbeitung über Beeinflussungsversuche nämlich rasch in ein Spannungsfeld mit der Meinungsfreiheit treten. Nicht zuletzt als Folge der Fichenaffäre im letzten Jahrhundert ist die Bearbeitung von Informationen über die politische Betätigung oder die Ausübung der Meinungsäusserungsfreiheit heute nur ausnahmsweise zulässig.

Wo endet Meinung, und wo beginnt Propaganda?

Müller sieht dabei gleich mehrere schwierige Abgrenzungsfragen. Will man sich auf ausländische Aktivitäten beschränken oder auch inländische Beeinflussungs- und Desinformationskampagnen erfassen? Wo liegt die Grenze zwischen demokratiegefährdender Propaganda und politischen Meinungen, welche in der Schweiz grundrechtlich auch dann geschützt sind, wenn sie abstrus sind oder auf Falschinformationen basieren? «Gerade bei nachrichtendienstlichen Tätigkeiten ist eine möglichst präzise Umschreibung des Aufgabengebietes unumgänglich.»

Wie diffizil staatliches Eingreifen ist, zeigte nicht zuletzt die Festnahme von Pawel Durow, dem Gründer der Messenger-Plattform Telegram. Seit Jahren ist bekannt, dass der Dienst Desinformation und Propaganda verbreitet, zum Beispiel zu Corona oder zum Ukraine-Krieg. Die französische Justiz wirft Durow vor, zu wenig gegen kriminelle Aktivitäten auf Telegram zu unternehmen und nicht mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Frankreichs offensives Vorgehen löste prompt heftige Reaktionen aus – und eine Debatte darüber, ob die Festnahme ein Angriff auf die Meinungsäusserungsfreiheit sei.

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