Der geheimnisumwitterte jiddische Schriftsteller Nister (1884–1950) hielt so lange wie möglich an seinem symbolistischen Credo fest. Nun liegen seine Erzählungen auf Deutsch vor.

Im Jahr 1929 geriet der jiddische Schriftsteller Pinches Kahanowitsch, alias Nister, ins Fadenkreuz der sowjetischen Literaturkritik. Die Attacken kamen von Blättern wie «Prolit» («Proletarskaja literatura») oder dem jiddischsprachigen «Schtern». Aber auch ein Weggefährte von der noch in der Zarenzeit gegründeten «Kiewer Gruppe», der jiddische Schriftsteller David Hofschteyn, verhöhnte Nister wegen seines «Provinzialismus» und seines Festhaltens am Symbolismus. Der Name Nister, Hebräisch für «Verborgener», knüpft an eine ostjüdische Legende an, laut der in jeder Generation 36 Gerechte im Verborgenen das Fortbestehen der Welt sichern. Nisters materialistische Kontrahenten formten aus seinem Nom de Plume den Kampfbegriff «Nisterismus», analog zu «Mystizismus».

Anlass für die Hetze gegen den 1884 in Berditschiw, der «jüdischen Hauptstadt der Ukraine», geborenen Autor war unter anderem sein rätselhaft-visionärer Erzählband «Fun mayne giter», der nun unter dem Titel «Von meinen Besitztümern» auf Deutsch vorliegt. Für seine hybriden Kunstwelten schöpfte Nister aus allem, was die Kommunisten der Abraumhalde der Geschichte zuwiesen: Symbolismus und Romantik, Chassidismus und Kabbala. Der renitente Schriftsteller war nur eines von vielen Opfern der 1929 ausgerufenen «Grossen Wende» Stalins, die auch das Ende der sowjetischen Avantgarden einleitete. Viele jiddische Intellektuelle verloren damals ihre Positionen. Der Zwist innerhalb der sowjetjiddischen Literatur spielte dem Regime dabei in die Hände.

Kaum verschlüsselte Kritik

Wegen seiner parabelhaften, schwer zugänglichen Texte wird Nister oft mit Kafka verglichen. So spielt die «Geschichte vom Grünen Mann» in einem von Naturwesen bevölkerten Parallelreich. Der Grüne Mann, dem die «Mooswesen» folgen, erfüllt den Auftrag, eine Königstochter vor den Nachstellungen des «Herrschers der Wolken» zu beschützen, mit Erfolg. Die Erzählung erinnert nicht nur an Nisters ambitionierte, teilweise von Marc Chagall illustrierte Kindergeschichten. Sie ist auch eine poetologische Selbstvergewisserung: In seiner eigenen Welt, die anderen Regeln folgt, ist der Schriftsteller autonom und diesseitigen Mächten entzogen. Zum Schluss heisst es: «Der Grüne Mann drehte sich um und ging an diesem Tag, wie an jedem Tag, an seine Arbeit, zu seinen Pflanzen, um alles mit seinem leuchtenden Grün zu bekleiden.»

Kaum verschlüsselte Kommunismuskritik findet sich in «Von meinen Besitztümern». In dem verschachtelten Text gewinnt ein Armer bei einer Verlosung ein Buch mit dem gogolesken Titel «Schriften eines Irren» von einem gewissen Nister. Darin wird Nister von einer Bärenfamilie belagert, die ihm bereits alles genommen hat und nun sogar die Finger abfrisst – ein drastisches Bild für die Deprivation und Entrechtung des Einzelnen. In den gierigen Bären lassen sich unschwer Russland und der Kommunismus erkennen. Jedenfalls wird der gebeutelte Protagonist erst reich, verliert dann alles und landet wieder bei den Bären, bevor er im Irrenhaus endet.

Die meiste Zeit seines Lebens hat Nister in der Ukraine verbracht. Zwischen 1921 und 1925 zog er mit Frau und Tochter über Moskau und Kaunas weiter nach Berlin und Hamburg. In der deutschen Hauptstadt war der schweigsame Mann, wie viele russische Exilkünstler, Gast im legendären Romanischen Café, publizierte eigene Werke und brachte gemeinsam mit David Bergelson, einem weiteren Kollegen von der Kiewer Gruppe, das kurzlebige jiddische Avantgardemagazin «Milgroym» («Granatapfel») heraus. Nebenbei suchte Nister ständig nach Gelegenheiten für den Broterwerb. Im Hamburger Hafen arbeitete er eine Zeitlang für die sowjetische Handelsvertretung, bevor er 1925, auch angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus, erschöpft nach Kiew zurückkehrte. Dort war ein jiddischer Autor zumindest in der Nähe seines Publikums.

Der Weg der Anpassung

Nach seinem politischen Ruin als Schriftsteller 1929 versank Nister, inzwischen in Charkiw, für einige Jahre in Schweigen. Gleichzeitig formte er sich zum Realisten um, denn der sozialistische Realismus wurde 1934 Staatsdoktrin. An seinen jüngeren Bruder Motl in Paris schrieb er: «Vom Symbolismus zum Realismus überzugehen, ist für einen Menschen wie mich, der so viel Mühe darauf verwendet hat, seine Methode und seine Schreibweise zu vervollkommnen, sehr schwer. Es ist eine Frage der Technik; es gilt – wie kann man sagen – aufs Neue zur Welt zu kommen, da muss man seine Seele wie eine Socke umstülpen.» Das Ergebnis seines Ringens war der Roman «Die Familie Maschber» (1939/40), ein Werk, das heute zum Kanon der jiddischen Literatur gehört. Es machte ihn zum angesehenen Sowjetautor.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Nister, ebenso wie David Hofschteyn und David Bergelson, von Stalin in das Jüdische Antifaschistische Komitee (JAK) berufen, um weltweit Geld für den Kampf gegen Hitler zu sammeln. Derweil starb seine Tochter im belagerten Leningrad; weitere Verwandte kamen im Holocaust um, über den er erschütternde Texte verfasste.

Nach dem Krieg, das JAK hatte seine Schuldigkeit getan, schlug Stalin einen strikt antisemitischen Kurs ein. 1947 schrieb Nister, verzweifelt über die sowjetische Zensur: «Was immer ich schreibe, sie nehmen die Seele heraus. Ich werde also nicht mit dem Bären tanzen.» Lange nachdem viele seiner marxistischen Kritiker vom Sowjetregime liquidiert worden waren, wurde Nister 1949 in den Gulag Abes in der Republik Komi am Polarkreis verschleppt. Dort starb er am 4. Juni 1950.

Seine Kollegen vom JAK, darunter David Hofschteyn und David Bergelson, wurden nach einem antisemitischen Schauprozess zusammen mit den wichtigsten jiddischen Schriftstellern und Intellektuellen der Sowjetunion in der Nacht des 12. August 1952 hingerichtet. Damit war der Jiddischismus, der eine intellektuelle jiddische Kultur an die Stelle der Religion hatte setzen wollen, Geschichte.

Der Nister: Von meinen Besitztümern. Jiddische Erzählungen. Aus dem Jiddischen von Daniela Mantovan. Wunderhorn-Verlag, Heidelberg 2024. 260 S., Fr. 38.90.

Exit mobile version