Samstag, November 23

Nach dem ersten Wahlgang im September sind im Gemeinderat von Wassen zwei Sitze frei. Weil niemand sie besetzen will, droht die Zwangsverwaltung. Eine Geschichte über die Schweiz.

Vor einigen Tagen hat Andreas Baumann einen Kollegen aus der Alpgenossenschaft getroffen. Der hat zu ihm gesagt: «Ich wähle dich in den Gemeinderat, du bist ein guter Cheib.»

Andreas Baumann ist eine bekannte Figur im kleinen Urner Bergdorf Wassen. Er ist Familienvater, Landwirt, Vorstandsmitglied des Urner Bauernverbandes, Vizekommandant der Feuerwehr und Kassier der Alpgenossenschaft. Baumann will nicht in den Gemeinderat. Zumindest nicht jetzt. Wie denn auch mit all den Ehrenämtern?

Andreas Baumann sagte also zum Kollegen: «Wenn du mich wählst, kannst du gleich mein Amt als Kassier in der Alpgenossenschaft übernehmen, du hüärä Schnurri!»

So wie Andreas Baumann ergeht es in diesen Tagen vielen Leuten in Wassen. Weil im ersten Wahlgang im September niemand das absolute Mehr erreicht hat, sind im Gemeinderat noch immer zwei Sitze frei. Jemand muss sie besetzen, denn im Kanton Uri gilt Amtszwang. Wer noch kein politisches Amt bekleidet hat und unter 65 Jahren alt ist, wäre verpflichtet, eine Wahl anzunehmen. Wer sich weigert, erhält eine Busse von 5000 Franken von der Staatsanwaltschaft. Praktisch kann man sich nur mit einem Wegzug in eine andere Gemeinde der Pflicht entziehen.

Nun findet am Sonntag der zweite Wahlgang statt. Dieses Mal reicht das einfache Mehr. Eine Stimme kann für die Wahl reichen. Andreas Baumann hat im September am zweitmeisten Stimmen gemacht. Seine Chancen für die Wahl am Sonntag stehen also gut – oder eben schlecht.

In den Tagen vor der Wahl sind viele Leute in Wassen nervös. Sie haben eine Übereinkunft getroffen. Niemand gibt öffentlich eine Wahlempfehlung ab. Man lasse die Wahl einfach passieren, heisst es. Absprachen gibt es trotzdem. Am Familientisch oder am Telefon.

Was in Wassen geschieht, zeigt die Krise des Milizsystems auf. Vor allem in kleinen Dörfern, in denen der Gemeindeschreiber keine hohen Sitzungsgelder und Spesen vergüten kann, fehlen Kandidaten für die Ämter. Die Demokratie wird zu einem Chrampf.

Nächste Ausfahrt Wassen

Wassen ist 25 Autominuten von Altdorf entfernt, dem Hauptort des Kantons Uri. Das Dorf hat 454 Einwohner und liegt auf einer kleinen Terrasse im engen Reusstal. Es gibt einen Samariterverein, eine freiwillige Feuerwehr, einen Mütterverein und die Katzenmusik, eine Urner Spielart der Guggenmusik.

Andreas Baumann sagt, er habe sich oft gefragt, warum Wassen so viel Mühe habe, Leute für den Gemeinderat zu finden. Vielleicht liege es am Durchgangsverkehr, der das Dorf seit dem Mittelalter prägt. «Wassen ist eben nicht das urchige Emmen- oder Schächental. Wir sind weniger verwurzelt in dem Drum und Dran, dem Tal.»

Die Bedeutung des Verkehrs zeigt sich schon in der Lage von Wassen. Das Dorf ist der Anfangspunkt der Strasse über den Sustenpass, die nach Meiringen ins Berner Oberland führt. Es liegt eingepfercht zwischen der Gotthardautobahn und der Gotthardbergstrecke.

Jeden Tag fahren Tausende Menschen am «Chileli vo Wasse» vorbei, an der berühmten Pfarrkirche. Nur: Kaum jemand hält an. Der «Hirschen», die «Krone», die «Alte Post», all die Beizen haben seit Jahren geschlossen. Doch wenn sich Autos vor dem Nordportal des Gotthardstrassentunnels kilometerlang stauen, weichen etliche Fahrzeuge auf die alte Gotthardstrasse aus und verstopfen das Dorf.

Andreas Baumann sagt: «Der Verkehr sägt uns ab, es reicht uns!» Bevor Baumann etwas sagt, wartet er einen Moment, denkt nach und platziert dann seine Botschaft. Er pflegt eine Rhetorik von markigen, kurzen Sätzen. Er sei Bauer, sagt Baumann, und die Bauern liessen sich eben nicht mehr alles gefallen. Kleine Gemeinden wie Wassen leider schon.

Der Kanton schreibt auf Anfrage, die Arbeitsgruppe Staumanagement, bestehend aus dem zuständigen Bundesamt, Gemeinde- und Kantonsbehörden, habe schon messbare Verbesserungen erreicht. Doch der Einfluss auf den Verkehr habe Grenzen. Im vergangenen Sommer hat der Kanton eine Standesinitiative in Bern eingereicht, die das Problem lösen soll.

All das senkt die Attraktivität der Gemeinde und schreckt Zuzüger ab, die das Dorf dringend braucht.

Exodus

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten fast 1000 Personen in Wassen. Als der Gotthardtunnel gebaut wurde, waren es sogar 2700. Doch seit über hundert Jahren kämpft Wassen gegen die Abwanderung. Allein zwischen 1950 und 2018 ist die Bevölkerungszahl von Wassen auf weniger als die Hälfte gesunken.

Andreas Baumann sagt, mit der Abwanderung habe das Dorf nicht nur Steuerzahler, sondern auch gut ausgebildete Leute verloren. Solche mit guten Ideen. Potenzielle Gemeinderäte.

Zurzeit hat Wassen 454 Einwohner. 251 davon sind stimmberechtigt. Die übrigen sind Kinder oder ausländische Arbeitskräfte, die oben im Tourismusort Andermatt angestellt sind und kein Wahlrecht haben. Weitere 70 Personen entfallen, weil sie im Altersheim wohnen und wegen ihres Alters kein Amt mehr ausüben können. Zieht man zusätzlich die Jugendlichen in Ausbildung ab, bleiben rund 70 Personen. Doch neben dem Gemeinderat gibt es in Wassen noch mehrere Kommissionen, den Kirchen- und den Bürgerrat. Damit Wassen funktioniert, sind laut dem Gemeindeschreiber rund 55 Personen nötig. Der Kreis der Kandidatinnen und Kandidaten grenzt sich immer weiter ein. Bis auf gut zwei Dutzend Leute.

Es ist eine bedrückende Erkenntnis: Die Probleme werden immer mehr, die Schultern, auf denen sie lasten, immer weniger.

Wer in Wassen noch nie ein Amt innehatte, verhält sich in diesen Tagen diskret. Nach der Feuerwehrübung oder der Sitzung im Mütterverein bleiben die Leute bei alltäglichen Gesprächsthemen. Sie wollen verhindern, dass nach zwei, drei Bier jemand über die Wahl redet. Sie wissen: Wer öffentlich einen Namen in Umlauf bringt, läuft Gefahr, selbst gewählt zu werden. Weil es dann heisst: «Mach du es doch!»

Alle hoffen, dass es bei der Wahl jemand anderes trifft. Jemanden wie damals Brigitte Gamma.

Der Kanton Uri endet in Erstfeld

Vor sechseinhalb Jahren ist die 57-jährige Pflegerin Brigitte Gamma durch Amtszwang in den Gemeinderat von Wassen gewählt worden. Vor der Wahl, an einer Gemeindeversammlung in der Turnhalle, hatte der damalige Gemeinderat sie als Kandidatin vorgeschlagen. Gamma sagt, sie habe sich mit allem gewehrt, was sie hatte. Es half nichts.

Als sie einknickte und das Amt übernahm, war der amtierende Gemeinderat erleichtert, weil er der Versammlung eine Kandidatin präsentieren konnte. Und die Bewohner waren froh, dass sie endlich einen Namen für ihre Stimmzettel hatten und die vorwurfsvolle Stille in der Turnhalle endete.

Gamma sagt, dass sie sich lange und intensiv in ihr Amt einarbeiten musste. Dadurch habe sie viel gelernt. Über das politische System, über Machtverhältnisse im Kanton, aber auch über die gesunde Distanz zur Kritik am Gemeinderat.

Stundenlang hat Gamma zu Hause in ihrem Stübli Vernehmlassungen des Kantons gewälzt. Oft sei es um Dinge gegangen, die das Portemonnaie der Gemeinde belasteten. Auflagen zur externen Kinderbetreuung, zum Schulwesen. Posten, die das bescheidene Budget der Gemeinde weiter ausreizten.

Gamma hat all diese Vernehmlassungen abgearbeitet und wusste doch, dass es nichts bringt. Sie sagt: «Am Ende richtet sich der Kanton in diesen Fragen nach den grossen Agglomerationen, nicht nach uns, den kleinen Gemeinden.»

Es ist ein weitverbreitetes Gefühl im Dorf. Es heisst: Für die Obrigen in Altdorf ende der Kanton Uri in Erstfeld.

Trotz alldem sagt Gamma heute, dass sie die Zeit im Gemeinderat nicht missen möchte. Vier Jahre lang war sie gesetzlich verpflichtet, sich als Gemeinderätin zu engagieren. Im Dezember endet ihr sechstes. Sie blieb freiwillig länger. Doch nun möchte sie wieder mehr Zeit für ihren Beruf haben und scheidet deshalb aus dem Amt aus. Sie sagt, die Leute hätten sich für ihren Einsatz bedankt. Sie sagt aber auch: «Wenn etwas schiefläuft, auch wenn die Gemeinde dafür nichts kann, wissen die Leute eben auch, wer im Gemeinderat sitzt.»

Wassen hat in den vergangenen Jahren einen hohen Verschleiss an Gemeinderäten gehabt. Regelmässig legten gleich mehrere Gemeinderäte ihr Amt nieder, sobald der Amtszwang erlosch und sie die vorgeschriebenen vier Jahre abgeleistet hatten. Andere wurden zum Rückzug gedrängt.

Vor einigen Jahren baute eine Gruppe aus dem Dorf einen möglichen Gegenkandidaten für das Präsidium auf. Es gab Flugblätter, viel Gerede und verbale Angriffe, die in der Lokalzeitung aufgegriffen wurden. Der amtierende Gemeindepräsident entschloss sich damals, nicht wieder zur Wahl anzutreten. Einige Namen, die damals die Dorfopposition bildeten, werden nun als Kandidaten für die Wahl am Sonntag gehandelt. Hinter vorgehaltener Hand sagen die Leute: «Sollen sie es doch machen.»

Brigitte Gamma kann die Wahl gelassener angehen. Wen sie wählen wird, weiss sie noch nicht. Doch mittelfristig würde sie sich vom Gemeinderat wünschen, dass er das Thema einer Fusion wieder aufbrächte. Sie glaubt, eine Fusion mit den beiden Nachbargemeinden Göschenen und Gurtnellen mache Wassen stärker und die Probleme kleiner.

Viel Verantwortung, aber grosse Teilhabe

Das ist auch der Wunsch von Mario Baumann, 21-jährig, ausgebildeter Informatiker und Vorstandsmitglied der Katzenmusik in Wassen. Er ist mit Kindern aus den Nachbardörfern Gurtnellen und Göschenen aufgewachsen und zur Schule gegangen. Er sagt, daraus entstehe irgendwann vielleicht eine regionale Mentalität.

Seit diesem Jahr ist Baumann Landrat von Wassen und vertritt die Gemeinde im Kantonsparlament. Er steht für eine junge Generation und im besten Fall für einen Aufbruch in Wassen. Es gibt da ein paar günstige Vorzeichen.

Die Bevölkerungszahl von Wassen hat sich stabilisiert und ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Bis 2028 soll ein Wasserkraftwerk mit einer Jahresproduktion von 31 Gigawattstunden entstehen. Das bringt der Gemeinde Steuereinnahmen. Auch eine Überbauung mit Wohnungen ist geplant.

Schon jetzt arbeitet Mario Baumann mit den Vorständen der Feuerwehr und des Müttervereins daran, das Dorfleben in Gang zu bringen. Ein Frühlingsfest soll es geben, damit die Jungen nicht immer nach Altdorf in den Ausgang müssen.

Auch in der Politik steht Mario Baumann für eine neue, positive Mentalität im Dorf. Für viele seiner älteren Mitbürger sind die Gemeindeversammlungen eine Gedulds-, eine Nervenprobe. Mario Baumann faszinieren sie. Er sagt, je nachdem, wer ein Votum vortrage und wie gut dessen Argumente seien, könne die Stimmung in diesen Versammlungen kippen. «Bei der kleinen Masse hat der Einzelne, anders als bei nationalen Abstimmungen, viel Gewicht und eine grosse Teilhabe, er kann etwas bewirken.»

Baumann sieht sich als Politiker des Ausgleichs, darum sei er auch in die Mitte eingetreten. Er möchte Dialoge und weniger Konflikte anstossen. Im Landrat, aber eben auch an den Gemeindeversammlungen in der Turnhalle von Wassen.

Schon vor mehreren Jahren wurde Baumann für den Gemeinderat angefragt. Damals war er noch in der Lehre und sagte ab. Auch dieses Jahr hat er im ersten Wahlgang ein paar Stimmen gemacht. Seine Wahl ist unwahrscheinlich, da er bereits im Landrat sitzt. Wenn er auswählen könne, sagt Baumann, würde er später in den Gemeinderat gehen.

Und nun? Was geschieht am Sonntag?

Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass Wassen auch am Sonntagabend noch immer zwei Gemeinderäte fehlen, droht der Gemeinde die Zwangsverwaltung durch den Kanton.

Andreas Baumann, der Vizekommandant der Feuerwehr, sagt weiterhin, dass er nicht in den Gemeinderat wolle. Er habe immer gesagt, eines Tages gehe er und dann setze er sich über mehrere Amtsperioden ein. Er sagt aber auch, dass er niemand anderes da hineinreiten wolle.

Mario Baumann, der junge Landrat, sagt, wer eine Veränderung wolle, müsse Verantwortung übernehmen. Und dass man eine allfällige Wahl annehmen sollte. Das gelte für alle anderen, aber auch für ihn.

Brigitte Gamma, die abtretende Gemeinderätin, wünscht sich, dass am Sonntag zwei Leute aus dem Dorf den Mut finden und sagen: «Jä nu, dann mache ich es halt.» So wie sie es vor sechs Jahren getan hat.

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