Mittwoch, Oktober 9

Vor neunzig Jahren kommen in der kanadischen Provinz Ontario fünf Mädchen zur Welt. Der Staat nimmt den Eltern die Kinder weg und vermarktet sie. Doch auch nach der Rückkehr ins Elternhaus endet der Missbrauch der Kinder nicht.

Am 28. Mai 1934 liegt in einem Bauernhaus ohne Elektrizität und fliessend Wasser im Nordosten Kanadas eine junge Frau in den Wehen. Die 25-jährige Elzire Dionne hat bereits fünf Kinder, nun ist sie erneut schwanger. Die beiden Hebammen und Allan Dafoe, der Landarzt, vermuten Zwillinge. Doch dann trauen sie ihren Augen nicht, als fünf Babys zur Welt kommen. Später werden die Ärzte feststellen, dass die Mädchen eineiig sind. Die Chancen auf Fünflinge liegen bei eins zu über fünfzig Millionen.

Yvonne, Annette, Cécile, Émilie und Marie kommen zwei Monate zu früh zur Welt. Bei der Geburt wiegen sie zusammen knapp über sechs Kilogramm. Da niemand mit dem Überleben der Winzlinge rechnet, findet die Nottaufe statt. Doch sie werden die ersten dokumentierten Fünflinge sein, die die frühe Kindheit überleben. In den ersten Tagen liegen sie auf Wärmeflaschen und werden mit einer Mischung aus Kuhmilch, Wasser, Maissirup und ein paar Tropfen Rum gefüttert.

Die Mädchen werden unter Vormundschaft der Regierung gestellt

Die Geburt der Fünflinge spricht sich wie ein Lauffeuer herum, ihr Überleben gleicht einer Sensation. Die Familie bekommt von einem Spital in Toronto Inkubatoren zugeschickt, die ohne Strom funktionieren. Fremde Frauen spenden Muttermilch. Starreporter aus Kanada und dem Norden der USA eilen nach Corbeil, wo die Familie Dionne wohnt. Die Nachricht von der Geburt ziert die Cover von Zeitungen und Zeitschriften, in den Wochenschauen ist sie das beherrschende Thema.

Doch die öffentliche Aufmerksamkeit wird den Mädchen auch zum Verhängnis werden. Die Provinzregierung wird die Kinder den Eltern entreissen und sie wie Zootiere vermarkten. Das kanadische Fremdenverkehrsamt wird einmal von der «grössten Touristenattraktion der ganzen Welt» sprechen. Die Vermarktung der Mädchen soll dem kanadischen Staat und dem Arzt Dafoe laut Schätzungen eine halbe Milliarde Dollar eingebracht haben.

Doch der Reihe nach.

Es ist die Zeit der Grossen Depression. Viele Menschen sind arm, sie sehnen sich nach guten Nachrichten. Auch die Familie Dionne hat kein Geld. So nimmt der Vater Oliva das Angebot an, den jüngsten Familienzuwachs auf der Weltausstellung in Chicago zu zeigen. Doch als Oliva Dionne den Vertrag wenige Tage später rückgängig machen will, erlauben die Organisatoren das nicht.

Im Sommer 1934 übernimmt das Rote Kreuz die Vormundschaft für die Kinder, womit der Vertrag mit dem Aussteller nichtig wird. Die Eltern haben sich einverstanden erklärt, die Kinder für zwei Jahre in die Obhut des Roten Kreuzes zu geben, das im Gegenzug alle medizinischen Kosten tragen soll. Darunter fällt auch der Bau eines «Spitals» eigens für die fünf Kinder.

Als Oliva und Elzire Dionne 1935 in Chicago an einer Veranstaltung als «Eltern der weltberühmtesten Babys» auftreten, nimmt die Regierung von Ontario dies zum Anlass, die Vormundschaft für die fünf Mädchen auszudehnen – vorgeblich um sie vor «Ausbeutung» zu schützen. Sie behaupten, die Eltern seien nicht in der Lage, sich um die Kinder zu kümmern. Während die Eltern der Vormundschaft des Roten Kreuzes noch aus Not zugestimmt hatten, verlieren sie nun unfreiwillig sämtliche «Rechte» an ihren Kindern. Mit der «Dionne Quintuplets Act» werden die Mädchen bis zu ihrem 18. Lebensjahr zu Mündeln der Provinzregierung erklärt.

Im Vorstand der gesetzlichen Vertreter sitzt auch Doktor Dafoe, der es durch die Begleitung der Geburt zu einiger Berühmtheit geschafft hat und der sich auf Kosten der Fünflinge in den kommenden Jahren eine goldene Nase verdienen wird. Er gibt Bücher mit seiner Expertise heraus und schliesst lukrative Werbedeals sowie Verträge für Filme ab, mit denen die Kinder vermarktet werden.

Mit der verlängerten Vormundschaft beginnt das Martyrium. Die Mädchen ziehen in das eigens für sie errichtete «Spital», das auf einem mit Stacheldraht umzäunten Grundstück steht. Dort haben sie einen strikten Tagesablauf, betreut von Krankenschwestern, bewacht von Polizisten. Regelmässig werden sie vermessen und untersucht, vom Stuhlgang bis zu Trotzanfällen wird alles dokumentiert. An den Kindern werden Verhaltensstudien durchgeführt.

Isoliert von der Aussenwelt

Ab und zu werden Yvonne, Annette, Cécile, Émilie und Marie von ihren Eltern und Geschwistern besucht, die auf der anderen Strassenseite leben. Die Mutter darf ihre Kleinen nicht berühren. Das Wort «Doktor» können sie sagen, bevor sie «Mutter» sagen können, wie es in späteren Berichten heisst. Die Mädchen wachsen ohne Kontakt zur Aussenwelt auf, eine öffentliche Schule besuchen sie nicht. Die Betreuerinnen wechseln jährlich und ohne ein Wort des Abschieds.

Nur wenige nehmen Anstoss daran, wie die Dionne-Kinder behandelt werden. Der österreichische Psychotherapeut Alfred Adler schrieb damals: «Die Fünflinge leben wie Insassen eines Musterwaisenhauses, und ein gewisser emotionaler Hunger ist untrennbar mit dem Heimleben verbunden. Es droht Gefahr.»

Die Fünflinge werden schon als Einjährige Teil einer gigantischen Werbemaschine. Hersteller bewerben Babynahrung, Desinfektionsmittel, Schokolade und Seife mit ihnen. Als der Vater einmal ein Foto der Mädchen für sich selbst machen will, wird ihm das verboten, denn er besitzt die «Rechte» nicht.

Ab 1936 werden die Kinder mehrmals täglich Besuchern vorgeführt. Dafür werden sie auf einen ummauerten Aussenspielplatz geführt. Tausende von Touristen begaffen die Mädchen durch ein Fenster. Die Kinder wiederum können die Besucher nicht sehen, nur hören. Das Spital wird zum von der Regierung betriebenen Freizeitpark, «Quintland» genannt. Drei Millionen Besucher kommen bis 1943, um einen Blick auf die Fünflinge zu erhaschen.

Bitte HIER Bildlegende zu den beiden obigen Bildern schreiben….

Bild links: CANADA – AUGUST 09: Sunday; hundreds of cars and thousands of persons came to the Dionne home. The demonstration of public sympathy and curiosity recalled the days when the five laughing children turned Callander into a world mecca. Nearly all were complete or virtual strangers. Many were from the U.S. Family would much rather be alone; said Father Camille LaFrance; but they recognize the sympathy of the public (Photo by Douglas Cronk/Toronto Star via Getty Images)

Bild rechts: (Original Caption) Quintland Goes Slightly Coney in New Tourist Boom. Callander, Ontario, Canada: Canada is experiencing a tourist boom of unprecedented proportions. During the month of July, 140,000 persons journeyed to Callander for a peek at the Dionne quintuplet girls who are now 2 years old and at one of the «cutest» stages of all. Roadside stands, gas stations, and souvenir shops are proving veritable bonanzas. Everything even remotely connected with the multiple birth has taken on an added importance. Such a thing as the original basket in which the quintuplets were placed has become the center of a special little «shrine» of it own, attracting hundreds of sightseers. Then there is the story of the stones from the Dafoe Hospital grounds which are supposed to help bring children to the childless. Over a half-million will have seen the quints from May to October. Somehow the c

«Das traurigste Zuhause, das wir je kennengelernt haben»

Die Mädchen werden während ihrer Zeit im Kinderheim auch in verschiedenen Hollywood-Filmen gezeigt. Als der Film «The Country Doctor» 1936 in die Kinos kam, galten die Babys laut «The Literary Digest» als der grösste «Publikumsmagnet in der Geschichte der Kinofilme». 1936 schrieb «The Star Weekly», dass in den vorangegangenen 24 Monaten mehr Menschen den Norden Ontarios kennengelernt hätten als in den fünfzig Jahren zuvor in der Geschichte der Provinz. Jeder dort verdiene an den Kindern.

Five of a Kind (1938) Trailer   Starring the Dionne Quintuplets and Claire Trevor

Nach einem neunjährigen Kampf erhält die Familie Dionne das Sorgerecht für die Fünflinge zurück. Die Mädchen kehren zurück, doch sie fühlen sich nicht als Teil der Familie. Mit 18 Jahren ziehen Yvonne, Annette, Cécile, Émilie und Marie aus und haben fortan nur noch wenig Kontakt zur Familie. Die Mutter soll sie geschlagen haben. Der Vater wird als Tyrann beschrieben. Mitte der 1990er Jahre werden die drei dann noch lebenden Schwestern in der Biografie «Family Secrets» sagen, er habe sie sexuell missbraucht. Später beschreiben die Mädchen die Zeit mit der Familie als «das traurigste Zuhause, das wir je kennengelernt haben».

Mit dem Auszug aus dem Elternhaus verschwinden die Mädchen auch aus dem Rampenlicht. Doch auch jetzt wird noch weiter über sie berichtet, so gibt es Aufnahmen von Cécile Dionnes Hochzeit. Es erscheinen Dokumentationen und Biografien über die Schwestern.

Doch richtig glücklich werden sie nie. Émilie stirbt im Alter von 20 Jahren im Kloster an den Folgen eines Krampfanfalls. Marie stirbt 1970.

Mitte der neunziger Jahre wohnen die drei noch lebenden Schwestern in einem bescheidenen Haus in einem Vorort von Montreal, sie erhalten eine knappe Rente. Ihnen wird bewusst, dass sie von den mit ihnen erwirtschafteten Geldern kaum etwas abbekommen haben. Aus einem für sie eingerichteten Treuhandfonds war eine Million Dollar verschwunden. Die Provinzregierung von Ontario gibt lange Zeit keine gute Figur ab und zeigt sich unempfänglich für alles, was das Schicksal der Schwestern anbelangt.

1998 schliessen die noch lebenden Dionne-Frauen mit der Regierung von Ontario einen Vergleich in Höhe von vier Millionen Dollar als Entschädigung für ihre Ausbeutung in der Kindheit, ursprünglich hatten sie zehn Millionen gefordert. Der Premierminister der Provinz, Mike Harris, entschuldigt sich für die Ausbeutung.

Als im amerikanischen Gliedstaat Iowa im November 1997 Siebenlinge zur Welt kommen, wenden sich die Schwestern in einem offenen Brief an die Familie der Neugeborenen. Das Magazin «Time» druckt ihn ab. Die Dionne-Schwestern schreiben darin, ihr eigenes Leben sei durch die Ausbeutung seitens der Regierung in Ontario ruiniert worden. Und sie schicken warnende Worte an die Familie der Siebenlinge:

«Wir hoffen, dass Ihren Kindern mehr Respekt entgegengebracht wird als uns. Ihr Schicksal sollte nicht anders sein als das anderer Kinder. Mehrlingsgeburten sollten weder mit Unterhaltung verwechselt werden, noch sollten sie eine Gelegenheit sein, Produkte zu verkaufen.»

Yvonne stirbt 2001. Am Dienstag feiern die letzten noch lebenden Dionne-Frauen, Annette und Cécile, ihren 90. Geburtstag.

Exit mobile version