Üppige Ärmel und kein einziges Korsett
Die Protagonistin in Yorgos Lanthimos’ neuem Film schert sich kaum um Konventionen – und schon gar nicht um modische. Zum Glück!
«Poor Things» sollte mit einem zusätzlichen Warnhinweis kommen. «Achtung», könnte neben dem blauen «FSK 16»-Sticker auf dem Poster stehen, «kann intensives Verlangen nach einer neuen Garderobe auslösen.» Denn wenn man den Kinosaal nach fast zweieinhalb Stunden verlässt, sich die Augen reibend und nicht ganz wissend, was sagen – in dem Moment wünscht man sich aufgeplusterte Ärmel wie die Protagonistin Bella Baxter. Damit ginge man sicherlich etwas leichter durch die Welt, etwas selbstbewusster, etwas neugieriger.
Verführerischer Anachronismus
Filme mit viktorianischem Setting transportieren eigentlich selten das Gefühl modischer Ermächtigung. Zu viele Kleiderschichten sind nötig, zu viele enge Korsette, zu viel Zugeknöpftheit und stilistische Folgsamkeit. Dass die Geschehnisse in «Poor Things», dem neuen Spielfilm des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos, um 1880 stattfinden, sieht man den Kleidern zwar zweifellos an: an den zeitweise restlos übertriebenen Keulenärmeln, den konformen Dreiteilern der Männer oder den langen Röcken der Haushälterin Mrs. Prim.
Doch Bella Baxter (Emma Stone) würfelt ihre Outfits so wild zusammen wie ihr Erschaffer die Körperteile von Hunden und Hühnern: Der Frankenstein-mässige Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) führt in «Poor Things» gerne Experimente an Tieren durch – und an Bella, deren suizidales Gehirn er mit dem Gehirn ihres ungeborenen Babys ersetzt hat.
Nie ganz angezogen
Das Resultat ist ein brodelndes, herrlich dissonantes Stilgebräu von Kostümdesignerin Holly Waddington. Dank ihrer Hirntransplantation ist Bella zu Beginn ein trotziges Kleinkind im Körper einer Frau: Sie verliert ständig Kleidungsstücke und plänkelt so in Unterhose und üppiger Bluse am Klavier. Ihr immer wechselnder Zustand der Entkleidung begleitet sie auch, nachdem sie ihre Sexualität entdeckt, nur auf andere Art.
Eine postkoitale Erkundungstour in Lissabon etwa absolviert sie in seidenen Shorts, Rüschenbluse und gerafften Keulenärmeln. Was heute als Underwear-as-Outerwear gefeiert würde, wäre damals ein Skandal gewesen. Nicht so für Bella, deren modische Extravaganzen von ihren Mitmenschen als Tatsache angenommen werden. Sie gehören schlicht zu ihr.
So schlendert sie ungestört in weiss glänzenden Stiefeln mit entblössten Zehen umher, die von André Courrèges’ Space-Age-Mode der sechziger Jahre inspiriert sind. Der grösste Unterschied zum viktorianischen Status quo ist aber das fehlende Korsett, das den Kleidern der Ära ihre Silhouette verlieh. Bella hätte es eh direkt wieder ausgezogen, erklärte Holly Waddington die unorthodoxe Entscheidung in einem Interview.
Transparenz und ein Kondommantel
Überhaupt ist der modische Ausdruck von Sexiness weit entfernt von repressiven Klischees. Stattdessen spielte Waddington mit transparenten Stoffen und mit Kleidungsstücken, die sich einfach an- und vor allem ausziehen lassen.
Manche Kostüme hingegen sind so lustig und bizarr wie die Komödie selbst: Bestes Beispiel ist der «Condom Coat», ein Mantel aus hellgelbem, transparentem Latex, der wie eine Regenjacke funktioniert und merkwürdig klinisch aussieht. Die vielen hellen Farben im Film seien laut Waddington eine Reaktion auf Bellas pechschwarze, ellenlange, von Egon Schieles Kunst inspirierte Haare gewesen.
Wie Engelsflügel oder Käfige
Trotzdem sind es die übergrossen Ärmel, die Bellas wirkliche Signatur bleiben. Mal ragen sie ihr fast über den Kopf, als seien sie Engelsflügel, als könnte sie damit jeden Moment fortfliegen. Mal sind sie aus dickem Stoff drapiert, mal wie ein Käfig geformt und mal – einem Interesse am Kommunismus geschuldet –geschrumpft.
Solche Ärmel sind auch in der zeitgenössischen Mode nichts Neues. Gerade während der Pandemie waren lange Baumwollkleider und -oberteile mit Puffärmeln und Raffungen unumgänglich: Sie standen für Romantik, Landflucht, Brotbacken. Bella Baxters Kleidung ist gerade deshalb so interessant, weil sie mit ähnlichen Silhouetten spielt, aber komplett andere Werte ausdrückt.
«Poor Things» ist seit dem 18. Januar 2024 in Schweizer Kinos zu sehen.