Donnerstag, Januar 30

Das schliessen Archäologen aus einer genetischen Untersuchung von Gräbern des keltischen Stammes der Durotriges. Für die Männer bedeutete das: Sie mussten die Gemeinschaft verlassen, in der sie aufgewachsen waren.

Wenn die Partner in einer Beziehung nicht am gleichen Ort wohnen, stellt sich irgendwann die Frage: Zieht einer der beiden um, wegen der Liebe? Und, wenn ja, wer?

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Bei der keltischen Gruppe der Durotriges, die vor 2000 Jahren im heutigen Südengland lebte, waren die Verhältnisse klar: Der Mann wechselt den Wohnort. Die Frau bleibt, wo sie ist. Denn ihr gehört das Land. Sie hat es von ihrer Mutter geerbt.

Zu diesem Schluss kommen die Genetikerin Lara Cassidy von der Universität Dublin, der Archäologe Miles Russell von der Universität Bournemouth und eine Gruppe von Kollegen nach einer genetischen Analyse von menschlichen Überresten aus einem Gräberfeld in Dorset. Ihre Ergebnisse haben sie jetzt in der Fachzeitschrift «Nature» veröffentlicht. Und sie stellen fest: Der Brauch dieser sogenannten Matrilokalität war damals in Britannien durchaus verbreitet.

Den Aufstand gegen die Römer führte eine Frau an

Das Britannien der Eisenzeit, wie Archäologen die Zeit von etwa 800 v. Chr. bis zur römischen Eroberung nennen, war von keltischen Stämmen oder Gruppen bewohnt. Als die Römer im Jahr 43 n. Chr. einmarschierten, arrangierten sich einige dieser Gruppen mit den Invasoren, andere rebellierten. Im Jahr 60 n. Chr. kam es zum Aufstand mehrerer Stämme – angeführt von Boudica, der Königin der Icener.

Sie ist eine von zwei geschichtlich belegten Herrscherinnen im eisenzeitlichen Britannien; die andere ist Cartimandua, die etwa zur gleichen Zeit die Brigantes in Nordengland anführte. Frauen, so lässt sich folgern, konnten die höchsten politischen Ämter ausfüllen. Mehrere antike Autoren beschreiben, dass keltische Frauen Eigentum erben, sich scheiden lassen und Armeen anführen konnten.

Da aber historische Quellen nie als genaue Beschreibung der Vergangenheit angesehen werden dürfen, wurden diese Berichte oft als exotisierende Darstellung gedeutet, gewählt, um dem patriarchalisch geprägten Publikum zu Hause in Rom einen sensationslustigen Schauer über den Rücken zu jagen: die Briten, ein wildes Volk mit wilden Frauen.

Die Gräber der Durotriges ermöglichen eine genetische Analyse

Grabfunde vom europäischen Festland stützen die Idee vom hohen Prestige vieler Frauen: In den reichsten Gräbern aus jener Zeit liegen weibliche Tote. Von den Kelten in Britannien sind jedoch nur wenige Gräber erhalten. Möglicherweise sei mit den Toten auf eine Art verfahren worden, die sich im archäologischen Befund nicht nachvollziehen lasse, schreiben die Autoren der neuen Studie.

Eine Ausnahme sind die Gräber der Durotriges, einer Gruppe, die Teile Südenglands besiedelte. Sie verbrannten ihre Toten nicht, sondern bestatteten sie mit angezogenen Beinen auf der Seite liegend in der Erde. Eines ihrer Gräberfelder liegt in Winterborne Kingston in Dorset, es war von etwa 100 v. Chr. bis 100 n. Chr. in Benutzung. Auch hier gehörten die Gräber mit den reichsten Funden oft Frauen, das war bereits bekannt.

Nun aber haben die Wissenschafter aus den menschlichen Überresten von diesem Fundort sowie zwei weiteren Durotriges-Gräbern aus der gleichen Gegend die Genome von 55 Individuen gewonnen. Sie schauten sich unter anderem die sogenannte mitochondriale DNA an, die nur von der Mutter an das Kind weitergegeben wird.

Über die mitochondriale DNA lässt sich folglich die Abstammung mütterlicherseits zurückverfolgen. Die Abstammung väterlicherseits hingegen ist über das Y-Chromosom feststellbar, das nur von Vater zu Sohn weitergegeben wird.

Die meisten Begrabenen stammten von einer einzigen Frau ab

Über bestimmte Gensequenzen lassen sich sogenannte Haplogruppen definieren: Individuen mit der gleichen Haplogruppe hatten einen gemeinsamen mütterlichen oder väterlichen Vorfahren. Genetiker können sogar errechnen, wie lange das her ist.

In den Gräbern in Dorset fanden Cassidy und ihre Kollegen mehrere Individuen mit der gleichen mitochondrialen Haplogruppe: Eine erwachsene Frau, ihre Tochter und ihre erwachsenen Enkel waren alle an diesem Ort begraben, wahrscheinlich auch ein Urenkel, der von einem anderen männlichen Partner abstammte.

30 von 40 Individuen besassen wenigstens einen Verwandten siebten Grades oder näher. Es handelt sich also um eine grosse Gruppe von Blutsverwandten. Die meisten von ihnen stammten mütterlicherseits von einer einzigen Frau ab, die Jahrhunderte zuvor gelebt hatte.

Die männlichen Individuen hingegen waren genetisch viel variabler. Verwandtschaft über die väterliche Linie kommt fast nicht vor. Bei sechs Individuen sind keine Verwandten identifizierbar. Vier dieser sechs Individuen wurden in typischer Durotriges-Weise bestattet, teilweise auch mit lokal hergestellten Keramikgefässen, sie waren also wohl in die Gruppe integriert.

Aus diesem Befund schliessen die Archäologen auf einen wichtigen Aspekt der sozialen Ordnung: «Die Ehemänner zogen mit der Heirat um zur Gemeinschaft ihrer Frau», fasst Cassidy in einer Pressemitteilung zusammen, «und das Land wurde möglicherweise durch die weibliche Linie vererbt.» Es sei das erste Mal, dass ein solches System in der europäischen Vorgeschichte nachgewiesen worden sei.

Matrilokalität und Matrilinearität und wie sie entstehen

Soziologen sprechen von Matrilokalität, wenn die Partner an den Wohnort der Mutter der Frau ziehen. Dies kann, muss aber nicht einhergehen mit einer matrilinearen Ordnung, bei der Status und Eigentum ausschliesslich über die mütterliche Linie vererbt werden.

«Die Assoziation von Matrilokalität mit Gesellschaften, in denen das Land von Frauen verwaltet und besessen wird, leitet sich aus der anthropologischen Forschung an modernen Gesellschaften wie zum Beispiel den Mosuo in China ab», erklärt Alissa Mittnik, Archäogenetikerin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, auf Anfrage per E-Mail. «Allerdings gibt es auch bei matrilokalen Gesellschaften eine Diversität an Systemen, was die Vererbung von Gut und Status angeht und bei wem die politische Macht konzentriert ist.»

Cassidy und ihre Kollegen hätten eine gute Methodik angewandt und nicht nur die mitochondriale DNA von einem Ort angeschaut. Diese allein nämlich könne Matrilokalität nicht beweisen. Die genetische Information auf den Chromosomen aber belege biologische Verwandtschaft von Individuen aus unterschiedlichen maternalen Linien und zwischen verschiedenen Orten, «resultierte also wahrscheinlich aus der Mobilität von Männern». Zudem sei der Vater in einem Paar, das gemeinsam Kinder hatte, meist zusammen mit der Familie der Frau begraben worden.

Als kulturelle Faktoren, die die Entwicklung von Matrilokalität und Matrilinearität fördern, gelten: Frauen wird eine grosse Rolle im Erwerb des Lebensunterhalts übertragen; Reichtum drückt sich in Land aus, und dieses gehört den Frauen; die Männer sind oft über längere Zeit weg, zum Beispiel im Krieg.

Daraus kann, aber muss nicht politische und soziale Macht für Frauen folgen. Bei den Minangkabau auf Sumatra, der grössten matrilinear und matrilokal organisierten Gruppe der Welt, haben Frauen die Entscheidungsgewalt über finanzielle Fragen und nehmen in Zeremonien zentrale Rollen ein.

Matrilokalität gab es im eisenzeitlichen Britannien öfter

Doch die Minangkabau sind ein seltenes Beispiel; Matrilinearität und Matrilokalität kommen zwar auf fast allen Kontinenten vor, aber scheinen die Ausnahme zu sein.

Auch die bisherigen Studien zum Neolithikum und zur Bronzezeit in verschiedenen Teilen Europas hätten immer Patrilokalität und Patrilinearität als vorherrschendes Verwandtschaftssystem identifiziert, schreibt Mittnik.

Cassidy und ihre Kollegen schauten sich genetische Daten von 156 anderen Fundorten in Europa an, vom Neolithikum, beginnend etwa um 5200 v. Chr., bis zur Eisenzeit. Sie fanden sechs weitere Orte mit sehr niedriger mitochondrialer und hoher Y-Chromosomen-Diversität, die sie als Zeichen von Matrilokalität deuten. Alle diese Orte stammen aus der Eisenzeit und liegen in England, nicht nur im Süden, sondern bis hinauf ins heutige Yorkshire.

Frauen mit hohem sozialen Status und auch Macht seien nicht grundsätzlich überraschend, schreibt Mittnik; es gebe sie in fast jeder Epoche, auch in eher patriarchalen Gesellschaften. Allerdings sei es höchst faszinierend, dass das System im keltischen Britannien so weit verbreitet gewesen sei.

Wann das System verlorenging und warum, lässt sich nicht genau sagen; «möglich, dass der römische Einfluss in den ersten Jahrhunderten nach Christus zu einer Änderung des matrilokalen Systems geführt hat», befindet Mittnik. Sicher ist, dass sich in römischer Zeit auch für die Durotriges gesellschaftlich viel änderte. Die letzte Bestattung, die die Durotriges in diesem Gräberfeld vornahmen, ist ganz anders als die vorigen. Der Körper des Toten liegt nicht mehr mit angezogenen Knien auf der Seite, sondern lang ausgestreckt auf dem Rücken.

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