Ari Jalal / Reuters
Die Zentralregierung in Bagdad will, dass die Zehntausende jesidischer Vertriebener aus den Flüchtlingslagern in Kurdistan in ihre Heimat im Sinjar-Gebirge zurückkehren. Viele fühlen sich dort aber immer noch nicht sicher.
Seit zehn Jahren nennt Ali Jaffri das Flüchtlingslager Sharia sein Zuhause. Mit seiner Ehefrau Aida Murad bewohnt er seit dem Genozid an den Jesiden ein kleines Häuschen in dem Camp in der autonomen Region Kurdistan im Nordirak: Im Hauptraum liegen Sitzkissen auf dem Boden, auf dem Schrank sind Klappmatratzen verstaut. Dazu gibt es eine Küche mit einem Wasserboiler und einer improvisierten Dusche. Die Mauern sind unverputzt, ihre grauen Steine riechen nach Zement. Eine eigene Toilette haben Jaffri und seine Frau nicht.
Jaffri gehört zur jesidischen Gemeinschaft. Im August 2014 eroberte der Islamische Staat sein Heimatdorf Bhrafa in der Region Sinjar. Das Gebiet im Nordwesten des Iraks ist vor allem jesidisch besiedelt, die benachbarten Regionen mehrheitlich muslimisch. Als der IS die jesidischen Dörfer in Sinjar überfiel, schlossen sich auch einige der muslimischen Nachbarn den Jihadisten an. Das Vertrauen ist seither zerstört. Zurück nach Sinjar will Jaffri nicht. «Niemals», betont er.
Doch seine neue, behelfsmässige Heimat in dem Flüchtlingslager ist bedroht: Mehrfach bereits hat die irakische Zentralregierung in Bagdad ihre Absicht verkündet, die Camps für Binnenflüchtlinge in Kurdistan zu schliessen. Nach Angaben der kurdischen Regionalregierung leben dort noch über 150 000 Menschen, die meisten von ihnen Jesiden aus Sinjar. Auch das Camp Sharia, in dem knapp 12 000 Jesidinnen und Jesiden in Zelten und kleinen Häusern leben, soll bis Ende Juli aufgelöst werden.
Bagdad will die Autonomie Kurdistans beschneiden
Die autonome Region Kurdistan hat Anreize, die Geflüchteten in ihrem Gebiet zu halten. Denn die Camps, in die Millionen an Hilfsgeldern fliessen, sind für sie eine bedeutende Einnahmequelle. Die Zentralregierung ist seit dem Unabhängigkeitsreferendum von 2017 jedoch bestrebt, die Autonomie der Kurden zu beschneiden. In dem Referendum hatte zwar eine überwältigende Mehrheit der Kurden für die Unabhängigkeit votiert, doch wertete Bagdad die Volksbefragung als verfassungswidrig und ging militärisch gegen die Kurden vor.
Seither versucht die Zentralregierung zunehmend vehement, die finanzielle Eigenständigkeit Kurdistans zu beschneiden. So urteilte ein irakisches Schiedsgericht im März 2023, dass der direkte Ölexport von Kurdistan in die Türkei, an Bagdad vorbei, ein altes Abkommen zwischen den beiden Staaten verletze. Seitdem fliesst kein Öl mehr durch die Irak-Türkei-Pipeline. Die Kurden haben damit eine wichtige Einkommensquelle verloren.
In dem Konflikt sind die Jesiden ein Volk ohne Stimme. Geht es nach der Zentralregierung, sollen die Jesiden nach Sinjar zurückkehren. Ob sie das möchten und ob es praktisch möglich ist, scheint für Bagdad zweitrangig. Im sogenannten Return-Index der Internationalen Organisation für Migration (IOM) schneidet Sinjar schlecht ab. In dem Index erhebt die IOM mehrmals jährlich die Lebensbedingungen, die Sicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Irak.
Jaffri musste vor dem IS in die Berge fliehen
Sicher fühle er sich in Sinjar nicht mehr, sagt Jaffri. Noch immer ist die Erinnerung an die Ereignisse vor zehn Jahren präsent. Als die Jihadisten in den frühen Morgenstunden des 3. August 2014 in Sinjar einfielen, habe er noch geschlafen, erzählt Jaffri. Als er aufgewacht sei, hätten ihn die Warnungen erreicht: Sinjar, die grösste Stadt der Region, südlich der Berge, sei bereits gefallen. Jaffris Dorf liegt nördlich des Gebirges. Mit seiner Familie flüchtete er in die Höhe, wie Zehntausende.
Über 1400 Meter misst die höchste Erhebung des unwegsamen Geländes. Auf seinem kleinen chinesischen Pick-up – den Jaffri seinen «besten Freund» nennt und der heute neben seinem Haus parkiert – nahm er Nahrungsmittel und Wasser mit. Sie reichten jedoch nur wenige Tage. Der IS blockierte die Berge, der Irak, die USA und weitere Länder warfen Hilfsgüter aus der Luft ab. Zwei Wochen harrten Jaffri und seine Familie in den Bergen aus, in der brennenden Augusthitze.
Die Kurdenmiliz PKK kämpfte schliesslich einen Korridor für die jesidischen Flüchtlinge frei, durch das vom IS kontrollierte Flachland in die kurdisch kontrollierten Gebiete Syriens. Über das Nachbarland erreichte Jaffri die kurdische Region des Iraks. Dort wurde für die Flüchtlinge das Camp Sharia aus dem Boden gestampft, Zelt an Zelt, auf betonierten Fundamenten. Als Jaffri im Camp ankam, erhielt er zunächst ein solches Zelt. Hier lebte er die ersten Jahre.
In dem Flüchtlingscamp brennt es immer wieder
Bei einem Brand 2021 wurde jedoch das Zelt zerstört, daraufhin baute eine Hilfsorganisation aus den USA das kleine Haus, in dem Jaffri und seine Frau heute leben. Immer wieder brenne es im Camp, sagt er: wegen der Gaskocher in den Zelten und der provisorischen Elektrik. Bei dem Feuer in seinem Zelt wurde Jaffri schwer verletzt, an einer Hand verlor er alle Fingerglieder. Auch seine Ehefrau Aida wurde bei einem Brand im Camp versehrt, oft versteckt sie ihr Gesicht hinter einer Corona-Maske.
Überall im Camp säumen Plastikmüll und Essensreste die Schotterwege. Was hält Jaffri und seine Frau noch hier? Im Prinzip wäre eine Rückkehr in sein Dorf möglich. Das Haus seiner Familie in Sinjar stehe noch, erzählt Jaffri, ein paarmal hat er es nach dem Genozid besucht. Nach Angaben der IOM sind mittlerweile etwa 130 000 Menschen nach Sinjar zurückgekehrt. Doch sein Dorf sei noch immer verwaist, und die Möglichkeiten, dort Geld zu verdienen, seien rar, sagt Jaffri.
Ein Besuch in Sinjar zeigt ein gemischtes Bild. Von dem Lager Sharia führt die Fahrt mit dem Auto an der Stadt Mosul vorbei, wo im Juni 2014 der damalige IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi das Kalifat ausrief. Vor allem nördlich der Berge, in den jesidischen Städtchen Khanasor und Sinune, herrscht wieder Leben: Abends rauchen Männer Wasserpfeife in den Cafés, kleine Läden verkaufen Konserven, Bier und Schnaps. Nur wenige Häuserruinen erinnern noch an den Krieg.
Südlich des Gebirges ist die Zerstörung sichtbarer, sind die Dörfer leerer. In der Stadt Sinjar ist die Altstadt bis heute ein Trümmerfeld. Dort hatte sich der IS lange verschanzt, und als er sich kurdischen Truppen und jesidischen Milizen geschlagen geben musste, hinterliess er ein Minenfeld. An den Resten der Wände von in sich zusammengefallenen Häusern warnen noch heute vergilbte Plakate vor Sprengkörpern. Sie erschweren den Wiederaufbau, machen ihn teuer und gefährlich.
Die Kontrolle über Sinjar ist bis heute umstritten
Wer für die Sicherheit und den Wiederaufbau der Region verantwortlich ist, ist umstritten. Das ist historisch bedingt: Nach Aufständen der Kurden gegen das Regime von Saddam Hussein 1991 zog die Zentralregierung ihre Sicherheitskräfte und ihren Verwaltungsapparat aus dem Nordosten des Landes zurück, Kurdistan wurde de facto autonom. Schon damals beanspruchten sowohl Kurdistan als auch der Zentralstaat die Region Sinjar für sich.
De facto kam Sinjar nach der amerikanischen Invasion und dem Sturz des Diktators Saddam Hussein 2003 unter die Kontrolle der kurdischen Peschmerga-Milizen. Formal anerkannt wurde die Autonomie der Kurden 2005. Der Konflikt um Sinjar jedoch blieb: Die Region wurde in Artikel 140 der neuen irakischen Verfassung als «umstrittenes Gebiet» definiert. Als der Islamische Staat 2014 angriff, zogen sich die Peschmerga zurück und überliessen die Jesidinnen und Jesiden dem IS.
Auch wenn die kurdischen Milizen Sinjar später zusammen mit der irakischen Armee wieder befreiten, blieb für viele Jesiden ein bitterer Nachgeschmack. Seit der Vertreibung des IS behalten die irakische Armee, die PKK, zwei konkurrierende jesidische Milizen sowie von Iran unterstützte meist schiitische Milizen ihre Stellungen in der Region. Die Peschmerga mussten dagegen nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017 abziehen.
Bekommt Erdogan grünes Licht für eine Offensive?
Den Nachbarstaat Türkei stört die Präsenz der PKK und einer mit ihr verbündeten jesidischen Miliz in der Region. Immer wieder fliegt er Luftangriffe auf ihre Stellungen. Bisher verurteilte Bagdad die Bombardierungen – doch befürchten die Kurden, dass sich dies künftig ändert. Denn Ende April besuchte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zum ersten Mal seit über zehn Jahren Bagdad und Erbil. Dabei wurde eine ganze Reihe von Abkommen unterschrieben.
Laut Medienberichten ist das wohl wichtigste: Der Irak erlaubt der Türkei Militäreinsätze gegen die PKK auf seinem Boden – im Gegenzug gesteht die Türkei dem Irak mehr Wasser aus den Flüssen Euphrat und Tigris zu, an deren Oberlauf Ankara grosse Staudämme errichtet hat. Bereits im März – noch vor dem Besuch Erdogans – hat der Irak die PKK auf die Liste der verbotenen Organisationen gesetzt. Im Sommer könnte eine grosse Offensive gegen die PKK im Nordirak beginnen.
Dies wäre genau dann, wenn die Jesiden aus den Flüchtlingslagern in ihre Heimat zurückkehren sollen. Der Konflikt der PKK und der Türkei bedeutet für sie eine permanente latente Bedrohung. Gerade in den Sinjar-Bergen bemannt die PKK Checkpoints, eines ihrer Denkmäler dort ist ein beliebtes Ausflugsziel. Die Stellungen der PKK sind Teil der Landschaft – und zählen zu den Angriffszielen der Türkei.
Rückkehr in die Heimat des Grossvaters
Wenige Autominuten entfernt von einer PKK-Stellung, welche die Türkei im April mit einer Drohne angriff, lebt Zaid Hammo. Das Geräusch der Drohnen kenne er gut, sagt er. Trotzdem ist er im vergangenen Jahr in seine Heimat Sinjar zurückgekehrt. Im Sommer 2014 hatte er sich vor dem IS in die Berge gerettet – die Heimat seines Grossvaters.
Dieser gehörte zu den Jesiden, die Saddam Hussein in den achtziger Jahren aus ihren Dörfern in den Bergen vertrieben und in Planstädten in der Ebene angesiedelt hatte, wie Hammo erzählt.
Das Haus, das Saddam Husseins Schergen damals zerstörten, baut Hammo nun wieder auf. Noch sind die Wände grau und kahl, doch der Putz ist schon aufgetragen. Finanzielle Unterstützung von der Zentralregierung bekomme er nicht, sagt er. Vier Jahre lang habe er gespart, um das Haus wieder aufzubauen. «Von der Terrasse aus blicke ich auf die Strasse, über die ich 2014 geflohen bin», sagt er.
Auch Jaffri hat Verwandte in den Bergen: Ein Onkel lebt dort. Einfach dort einzuziehen, sei aber nicht möglich, sagt er, das Haus sei zu klein. Zumal er und seine Frau Nachwuchs erwarten: Anfang August – genau zehn Jahre nach dem Genozid – soll ihr erstes Kind geboren werden. Eine Zukunft in Sicherheit und Würde sieht er für sich und seine kleine Familie in Sinjar nicht. Und auch nicht im restlichen Irak: «Irgendetwas passiert hier immer.»

