Sonntag, April 20

Die Schweizer Klimapolitik missachtet die Menschenrechte. So lautet das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg. Der Richterspruch dürfte weitreichende Folgen haben.

«Phänomenal ist das. Jetzt muss die Schweiz in der Klimapolitik über die Bücher», jubelt Stefanie Brander, eine von 60 nach Strassburg mitgereisten Klimaseniorinnen. Soeben haben diese mit ihrem Verein in Strassburg für eine Sensation gesorgt. In einem Urteil erklärte der Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ihre Beschwerde über weite Strecken für zulässig.

Die Richter kommen darin zum Schluss, dass die Schweiz die Menschenrechte der Seniorinnen verletze, weil sie nicht genug gegen die fortschreitende Klimaerwärmung unternommen habe. Konkret habe die Eidgenossenschaft Artikel 8 der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt, die das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert. Die Rentnerinnen hatten in der Beschwerde ins Feld geführt, dass der Bund seine Schutzpflichten ihnen gegenüber ungenügend wahrnehme und damit ihre Rechte verletze.

Im Urteil wird diese Argumentation über weite Strecken bestätigt. Die Rede ist darin etwa von «kritischen Lücken im nationalen Rechtsrahmen». So hätten es die Behörden versäumt, die nationalen Ziele für die Reduktion des Treibhausgasausstosses durch ein Kohlenstoffbudget oder auf andere Weise zu quantifizieren. Hinzu komme, dass die Schweiz ihre Klimaziele in der Vergangenheit nicht erreicht habe. Das Land habe es damit unterlassen, seinen Beitrag zu leisten, damit die globale Erwärmung 1,5 Grad Celsius nicht übersteige.

Urteil mit internationaler Signalwirkung

Obwohl sich die Beschwerde der Rentnerinnen nur gegen die Schweiz richtet, dürfte das Urteil internationale Strahlkraft besitzen: Es ist das erste Mal, dass ein länderübergreifendes Gericht direkt einen menschenrechtlich begründeten Anspruch auf Klimaschutz gutheisst. Entsprechend weitreichend könnten seine Auswirkungen sein. Denn indem die Richter die Klimaklage gutheissen, schaffen sie einen Präzedenzfall für alle 46 Staaten des Europarates. Diese könnten nun von ihren Bürgern aufgefordert werden, ihre Klimapolitik zur Wahrung der Menschenrechte zu überprüfen und nötigenfalls zu verstärken.

Auch die Schweizer Gerichte und namentlich die Bundesverwaltung werden im Urteil scharf kritisiert. Sie hätten keine überzeugenden Gründe dafür geliefert, warum sie es für unnötig hielten, die Klage zu prüfen. Vielmehr hätten sie die wissenschaftlichen Beweise für den Klimawandel nicht berücksichtigt und die Beschwerden schlicht nicht ernst genommen.

Zwei weitere Klagen in Zusammenhang mit dem Klimaschutz wiesen die Richter in Strassburg ab. So warfen etwa portugiesische Jugendliche 32 europäischen Staaten – darunter auch der Schweiz – vor, diese würden mit ihrer Politik die Klimakrise verschärfen und damit die Zukunft ihrer Generation gefährden. Im Unterschied zu den Schweizer Rentnerinnen hatten sich die portugiesischen Kläger jedoch direkt an Strassburg gewandt und nicht im Inland den Rechtsweg beschritten. Laut dem Gerichtshof hätten die Jugendlichen sich zuerst in Portugal durch die Instanzen klagen müssen.

Völkerrechtlerin Helen Keller: «Bahnbrechendes Urteil»

Die Zürcher Völkerrechtlerin Helen Keller, die selber jahrelang in Strassburg Richterin war, bezeichnet das Urteil auf die Beschwerde der Klimaseniorinnen auf Anfrage als «bahnbrechend». Der Gerichtshof stelle einen Zusammenhang zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der nationalen Verpflichtung her, die negativen Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Menschen zu reduzieren. «Zumindest die Umweltorganisationen können diese Verpflichtung nun in ganz Europa durchsetzen», so die Zürcher Professorin.

Dass die Klimaseniorinnen nun mit ihrem Begehren nochmals ans Bundesgericht gelangen, hält sie jedoch nicht für zwingend. «In diesem Fall würde eine Revision wohl nicht viel bringen.» So habe der Gerichtshof die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nicht mit der Aufforderung verknüpft, dass die nationalen Gerichte die Sache nochmals aufrollen sollten.

Welche Konsequenzen das Urteil politisch haben wird, ist derweil noch unklar. Der Gerichtshof hält darin fest, es sei nicht seine Aufgabe, der Schweiz zu sagen, wie sie die Klimaziele erreichen solle. Allerdings verlangen die Richter von der Eidgenossenschaft, dass sie sich ernsthaft um die Einhaltung der Klimaziele bemühen müsse. Gemäss EGMR muss die Schweiz nun dem Ministerkomitee des Europarats darlegen, wie sie das Urteil umsetzen will.

Im Inland fallen die Reaktionen auf den Richterspruch gemischt aus. Die SVP verurteilt diese Einmischung fremder Richter aufs Schärfste und fordert den Austritt der Schweiz aus dem Europarat. Und auch bei der FDP kommt das Urteil schlecht an: Offensichtlich verstehe man in Strassburg die direkte Demokratie der Schweiz nicht, kritisiert der Berner Nationalrat Christian Wasserfallen. Von einer Ohrfeige für den Bundesrat sprach dagegen SP-Co-Chefin Mattea Meyer.

Eine Sprecherin des Uvek betont derweil auf Anfrage, dass die Schweiz entscheidende Schritte für den Klimaschutz unternommen habe – mit dem Klimaschutzgesetz sowie auch dem kürzlich verabschiedeten CO2-Gesetz und dem neuen Stromgesetz, das im Juni an die Urne kommt. Das Bundesamt für Justiz werde das Urteil im Detail prüfen.

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