Freitag, Dezember 27

Hightech gegen Geschütze aus der Sowjetzeit: Auf den Schlachtfeldern der Ukraine prallen die Gegensätze aufeinander. Wieder einmal revolutioniert sich die Vorstellung, wie Kriege geführt werden.

Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Wer diesen Heraklit zugeschriebenen Satz zitierte, wurde vor wenigen Jahren noch als Bellizist beschimpft. Kriege waren so weit entfernt, dass schon der blosse Gedanke daran obszön wirkte. Seit der russischen Invasion in der Ukraine und dem Überfall der Hamas auf Israel gilt man als Realist, wenn man an den Ausspruch des griechischen Philosophen erinnert. Vor allem die Kämpfe in der Ukraine verändern fundamental die Art, wie westliche Gesellschaften über Krieg denken.

Vor einiger Zeit wurde der Begriff Disruption populär, gemünzt auf die Digitalisierung. Die grösstmögliche Disruption ist jedoch der moderne Krieg. Er pflügt nicht nur die beteiligten Nationen um. In Deutschland, das die Meinungsfreiheit gerne mit Denkverboten verteidigt, wurde aus der Gemeinschaft der Anständigen exkommuniziert, wer das Wort Wehrtüchtigkeit nur in den Mund nahm. Heute plaudert Verteidigungsminister Boris Pistorius entspannt, das Land müsse «kriegstüchtig» sein.

Kriege sind wieder wahrscheinlich geworden – auch in Europa, das lange als besonders friedlich galt. Tatsächlich trifft eher das Gegenteil zu: Europa und der Halbmond der Instabilität vom Kaukasus bis Nordafrika sind besonders unsicher.

Kollateralschäden sind autoritären Regimen egal

Gefühlt ist Europa noch immer eine Insel des Wohlstandes und der Stabilität, weit entfernt von den grossen Konflikten der Zeit. Bezieht man in das Bild auch andere als rein kriegerische Faktoren wie die irreguläre Migration mit ein, muss man Europa jedoch zu den Brennpunkten der Welt zählen. Die beiden Kriege, die weltweit am meisten Aufmerksamkeit auf sich ziehen, finden unmittelbar vor seiner Haustür statt.

Der Angriffskrieg in der Ukraine war der bisher tödlichste Krieg

Anzahl der Todesopfer in gewaltsamen Konflikten seit Januar 2023

Die Wahrnehmung hält allerdings mit den Umwälzungen nicht Schritt. Die Verteidigungsausgaben weisen nur langsam nach oben. Manche Länder sind noch immer blind für die Epochenzäsur. In der Schweiz vernachlässigt die Regierung die Verteidigung so sträflich, dass die Streitkräfte kaum einsatzfähig sind. Statt Abhilfe zu schaffen, schiebt sie die Schuld für das Desaster der Armeeführung zu. Eine klägliche Rolle spielt dabei die zuständige Ministerin Viola Amherd. Gäbe es in der Schweiz so etwas wie politische Verantwortung, müsste diese zurücktreten. Würde die Schweiz zur Nato gehören, wäre sie ein Risiko für das Militärbündnis. So aber lautet das Motto: Neutral ist egal.

Die Natur des Krieges hat sich gewandelt, seit das autoritäre Quartett aus Russland, China, Iran und Nordkorea diesen als Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen betrachtet. Lange glaubten die USA und ihre Verbündeten, sie könnten sich Konflikte aussuchen. Der Westen dominierte und intervenierte, wo es ihm gefiel.

Das Schlachtfeld hielt wenig Überraschungen für die westlichen Armeen bereit. Sie bestimmten das Tempo und den Ort. Zugleich versuchten sie, Opfer unter Zivilisten und den eigenen Truppen zu begrenzen. Man pflegte die Illusion des unblutigen Krieges.

Hingegen sind für Moskau und die Hamas tote Zivilisten kein Kollateralschaden, sondern ein Mittel der Kriegsführung. Wohnhäuser gehören zu den bevorzugten Zielen russischer Raketen. Noch weiter geht die Hamas. Sie provoziert den Tod unzähliger Zivilisten, indem sie diese als Schutzschilde missbraucht.

Mit dem Leben ihrer Soldaten gehen autoritäre Regime ebenfalls verschwenderisch um. In einzelnen Schlachten opfert Putin ungerührt bis zu 1000 Mann Gefallene und Verletzte pro Tag. Blutiger können Kriege nicht sein.

Heute wird der Westen an vielen Fronten überrascht. Nach der Annexion der Krim erhöhte Deutschland noch seine Abhängigkeit von Moskau. Niemand vermochte sich vorzustellen, dass die Krim nur das Vorspiel sein würde. Wenige Länder sind eigentlich auf einen Krieg besser vorbereitet als Israel. Dennoch wurde der jüdische Staat am 7. Oktober überrumpelt, weil der Feind eine neue Taktik anwandte. Statt wie üblich Raketen abzufeuern, griff die Hamas mit Infanterie an. Für den Nahkampf war Israel nicht gerüstet, denn es vertraute blindlings auf seine Raketenabwehr.

Entdeckt und sofort zerstört – der neue Zyklus des Todes

Weil sich Israel in falscher Sicherheit wiegte, klebte es am Status quo. Bedrohungen sind jedoch immer dynamisch. Innovation ist daher im Krieg wie überall sonst zentral. Hätte Heraklit die Digitalisierung und das Internet gekannt, wäre er indes vermutlich vorsichtiger gewesen mit seiner Sentenz, wer der Vater aller Dinge sei.

Nichts treibt die Entwicklung so voran wie zivile Erfindungen. Kleindrohnen, kommerzielle Satelliten und Software aus dem Silicon Valley machen das Gefechtsfeld transparent. In der Ukraine ist so die Zeit zwischen der Entdeckung eines Ziels und seiner Zerstörung auf weniger als fünf Minuten geschrumpft.

Das hat strategische Konsequenzen. Im ewigen Wettlauf zwischen Offensive und Defensive ist der Verteidiger im Vorteil. Wie im Ersten Weltkrieg dominiert der Stellungskampf. Wer gewinnen will, muss den Krieg neu denken; so wie das Zusammenspiel von Panzern und Luftwaffe 1939 den Bodenkrieg revolutionierte.

Das Erfolgsrezept im Irak 1991 und 2003, die mechanisierte Grossoffensive, kann heute rasch ins Verderben führen. Die Lehren aus der Ukraine stellen auch die westlichen Militärplaner vor knifflige Aufgaben.

Dem Panzer, dem Game-Changer von einst, und anderen grossen Waffensystemen wie Schiffen und Flugzeugen setzen neben Drohnen präzise Raketen zu. Auf diese Weise hat die russische Schwarzmeerflotte ein Fünftel ihrer Schiffe eingebüsst. Panzerschlachten, wie sie in der Ukraine einst zwischen Deutschen und Sowjets stattfanden, gibt es nicht mehr. Panzer dienen wieder der Unterstützung der Infanterie – wie vor hundert Jahren.

Das Beispiel zeigt, dass herkömmliche Waffensysteme nicht einfach obsolet werden. In den ersten Kriegswochen retteten zwei Artilleriebrigaden mit ihren Geschützen aus der Sowjetzeit Kiew. Sie verschossen in drei Tagen mehr Munition, als die Briten überhaupt besitzen. Rohrartillerie ist so traditionell wie Landminen, mit denen die Russen die ukrainische Sommeroffensive stoppten. In der westlichen Doktrin war das nicht vorgesehen.

Manchmal braucht es konzentriertes Feuer, dann wieder präzise Schläge auf Distanz. Dank modernen Missilen sind Depots und Kommandoposten im Hinterland verwundbar. Hightech und Altbewährtes ergänzen sich. Auf die Mischung kommt es an, dann kann sich der Feind nirgends sicher fühlen.

Die Schlussfolgerung daraus ist ungemütlich. In den letzten Jahren träumte die Öffentlichkeit vom billigen Cyberkrieg. Der aber bleibt Fiktion, weil alte und neue Systeme erst im Verbund optimale Wirkung erzielen. Angesichts von risikobereiten Akteuren wie Russland müssen Streitkräfte zudem für viele Szenarien gerüstet sein. Wer am Hindukusch Taliban bekämpfen, aber nicht die Heimat verteidigen kann, ist nutzlos.

Gerade neutrale Armeen benötigen ein breites Fähigkeitsspektrum, denn sie profitieren nicht von Allianzen. Neutralität ist teuer oder im Ernstfall nichts wert. Generell kennt Sicherheit kein Lean Management. Unzureichende Vorräte können tödlich sein. So fehlen der Bundeswehr Munition und Ersatzteile im Wert von 40 Milliarden Euro.

Heraklit war nicht der einzige Philosoph, der sich über Konflikte Gedanken machte. «Nur die Toten kennen das Ende des Krieges», soll Platon gesagt haben. Für demokratische Staaten darf es nie Ziel sein, Kriege zu führen. Sie müssen diese verhindern, weil für sie jedes Menschenleben zählt.

Das aber erfordert eine intakte Abschreckung. EU und Nato rechneten die Ukraine ihrer Einflusssphäre zu, investierten aber nicht in deren Sicherheit. Für Putin war das eine Einladung. Auch Israel konnte die Hamas nicht abschrecken, weil es nicht glaubhaft mit schmerzhafter Vergeltung (und nicht nur mit einem kurzen Luftkrieg) drohte.

Abschreckung ist eine dialektische Kunst. Sie denkt das Unmögliche, damit es nicht eintritt. Wer den Einsatz taktischer Atomwaffen kategorisch ausschliesst, schwächt seine Abschreckungsfähigkeit. Ohne Atomwaffen und die wenigstens theoretische Bereitschaft zu ihrem Gebrauch gibt es keine Sicherheit, solange die Gegenseite sie besitzt.

Neu ist die Erkenntnis nicht, aber vielleicht ist das die grösste Veränderung in der Betrachtung des Krieges. Das nukleare Tabu, das seit dem Untergang der Sowjetunion Bestand hatte, ist gefallen. Was das für eine Auseinandersetzung zwischen den USA und China etwa um Taiwan bedeutet, spricht heute noch kaum jemand aus. Ein Atomkrieg ist wieder mehr als eine gänzlich realitätsferne Hypothese.

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