Donnerstag, April 24

Ein letztes Mal feierte Papst Franziskus Ostern, wenig später war er tot. Dass Sterbenskranke das nahe Ende zugunsten bestimmter Ereignisse aufschieben können, wird oft vermutet. Unter Wissenschaftern ist das Phänomen aber umstritten.

Er liess es sich nicht nehmen: Am Sonntagmittag erschien Papst Franziskus trotz schwerer Krankheit auf dem kleinen Balkon des Petersdoms und segnete die versammelten Gläubigen. Anschliessend liess er sich im Papamobil über den Petersplatz fahren. Vorher gab es noch Zeit für eine kurze Audienz mit US-Videpräsident Vance.

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Am nächsten Morgen vermeldete der Vatikan dann den Tod des Papstes infolge eines Schlaganfalls mit anschliessendem Herz-Kreislauf-Versagen. Fast schien es, als hätte der schon seit Monaten schwerkranke Papst noch einmal all seine Lebenskraft zusammengenommen, um das höchste Fest des Christentums ein letztes Mal feiern zu können.

«Mors certa, hora incerta», lautet ein alter Sinnspruch: «Der Tod ist gewiss, seine Stunde ungewiss.» Viele Anekdoten wie nun auch die letzten Tage des Papstes nähren die Vermutung, dass sich die Stunde des Todes durch die Kraft des Willens zumindest ein bisschen hinauszögern lässt – sei es für ein religiöses Fest, einen runden Geburtstag oder den Besuch eines geliebten Angehörigen am Sterbebett. Was ist dran an dieser Vorstellung?

Die Patientin wartete auf die Erlaubnis, zu sterben

Der Palliativmediziner Sivan Schipper begleitet am Spital Uster todkranke Menschen auf ihrem letzten Weg und hat solche Vorkommnisse selbst erlebt. Besonders eindrücklich sei ihm eine alte, schwerkranke Patientin in Erinnerung, die während eines Nachtdienstes mehrfach gebeten hatte, mit dem Stationsarzt – also ihm – zu sprechen.

Wegen anderer Einsätze konnte Schipper erst mehrere Stunden später an ihr Bett kommen. Auf die Frage, wie er ihr helfen könne, antwortete die Frau, dass sie endlich sterben wolle. «Sie dürfen sterben», lautete Schippers Antwort. Fast im gleichen Moment riss die Frau ihre Augen noch einmal auf, ihre Muskeln erschlafften, wenige Minuten später tat sie ihren letzten Atemzug.

«Ich hatte sehr stark den Eindruck, dass sie auf mich gewartet hatte, weil sie sich von einem Arzt gewissermassen die ‹Erlaubnis › zum Sterben einholen wollte», sagt Schipper. Aber natürlich seien solche Fälle nur anekdotische Evidenz.

Etwas skeptischer ist sein Kollege Christopher Böhlke vom Palliativzentrum Bethesda-Spital in Basel. Viel häufiger sehe er Menschen mit starkem Todeswunsch, die trotzdem wochenlang nicht sterben können – und andere, die trotz einem starken Lebenswunsch sterben.

Spektakuläre Geschichten bleiben eher im Gedächtnis

Ein Problem mit Anekdoten: Geschichten von Patienten, die ihren Todeszeitpunkt zumindest scheinbar steuern können, bleiben wesentlich lebhafter in Erinnerung als solche Normalfälle. «Salienz-Bias» nennt die Kognitionspsychologie diese klassische Verzerrung der Wahrnehmung zugunsten von Reizen, die auffälliger, sichtbarer oder emotionaler sind. Aus puren Zufällen bastelt sich unser Gehirn so gerne auffällige Regelmässigkeiten zurecht.

Gegen solche Verzerrungen helfen objektive Daten. Tatsächlich sind Wissenschafter über die Jahre immer wieder möglichen Hinweisen auf eine mögliche Verschiebung der Sterbewahrscheinlichkeit rund um wichtige Feiertage oder den eigenen Geburtstag nachgegangen.

Studien suchen den Effekt in Sterberegistern

Als Begründer dieses Forschungsfeldes gilt der Soziologe David Phillips von der University of California in San Diego. In einer Reihe von Studien auf Basis von Sterberegisterdaten fand er ab den frühen 1970er Jahren immer wieder einen «death postponement effect». Demzufolge sinke die statistische Sterbewahrscheinlichkeit etwa in den Tagen vor dem eigenen Geburtstag oder auch vor wichtigen Feiertagen deutlich ab. In den Tagen danach gleiche sich dies durch eine entsprechende Übersterblichkeit im Vergleich zur durchschnittlichen Todesfallrate wieder aus.

Dabei spielt laut Phillips die subjektive Relevanz der Feiertage für die Menschen eine entscheidende Rolle: Bei Amerikanern jüdischen Glaubens war der Effekt am Pessach-Fest beobachtbar, nicht aber bei Christen, die wiederum vor allem Weihnachten abzuwarten schienen. Für chinesischstämmige Amerikanerinnen sei das Mondfest ein Grund, das Ableben zu verschieben.

Auch Präsidentschaftswahlen und Nationalfeiertage hätten laut Phillips diesen Effekt. Promi-Anekdote: Die amerikanischen Gründerväter John Adams und Thomas Jefferson starben beide am 4. Juli 1826, dem 50. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung.

Ist der «death postponement effect» nur ein Artefakt?

Allerdings konnten spätere Analysen Phillips’ Ergebnisse mehrheitlich nicht bestätigen. Der «death postponement effect» liess sich weder anhand der Daten von mehr als 300 000 Krebspatienten im US-Gliedstaat Ohio nachweisen noch in jenen von fast 250 000 Südafrikanern. Auch eine erneute und erweiterte Auswertung der von Phillips verwendeten Sterbedaten asiatischstämmiger Amerikaner rund um das Mondfest konnte den Effekt nicht replizieren. Dafür könnten gleich mehrere methodische Schwächen in der alten Studie verantwortlich sein, so die Autoren der neuen Untersuchung.

Wissenschafter der Universität Zürich fanden in der langjährigen Sterbestatistik der Schweiz 2012 sogar den gegenteiligen Effekt: eine um knapp 14 Prozent erhöhte Sterblichkeit unter älteren Menschen an ihrem Geburtstag. Erklärbar wäre dies unter anderem durch den zusätzlichen Stress am Jubiläumstag.

Ganz vom Tisch ist die Möglichkeit einer willentlichen Verschiebung des eigenen Ablebens damit allerdings nicht. Möglicherweise ist das Erreichen von Geburts- und Feiertagen kurz vor dem Lebensende nur noch für eine Minderheit der Sterbenden wichtig. Selbst wenn es diesen Menschen gelänge, ihr Ableben erfolgreich zu vertagen, könnte dieser Effekt leicht im Rauschen der gesamten Sterbestatistik untergehen.

Gleichzeitig ist die Vorstellung einer willentlichen Beeinflussung des Sterbeprozesses sogar plausibel. So hat schon die Annahme oder das Verweigern von Nahrung und Wasser Einfluss auf den Zeitpunkt des Todes.

Der Zustand des Papstes war höchst instabil

Im Falle des Papstes könnte ganz einfach der Stress des Ostersonntags zu viel gewesen sein: Bei einem 88-jährigen Patienten, der seit Monaten in einem sehr schlechten Gesundheitszustand ist und eine beidseitig schwelende Lungenentzündung hat, kann es jederzeit zu akuten Komplikationen wie eben einem Schlaganfall kommen, die dann unter Umständen sehr schnell zum Tod führen. Körperliche Anstrengungen begünstigen dies zusätzlich.

In dem Glauben vieler Menschen an die willentliche Beeinflussbarkeit des Todeszeitpunkts sieht Christopher Böhlke aber auch ein Symptom unserer Zeit: Die Hoffnung, auf Wunsch sterben zu können, ähnele dem Wunsch, gesund zu bleiben, wenn man nur alles richtig mache. Doch auch wer sich gesund ernähre und Sport treibe, könne irgendwann krank werden.

«Leben und Sterben entziehen sich letztlich unserer Kontrolle. Dieser Gedanke verunsichert natürlich viel mehr, als zu glauben, wir könnten beides aktiv beeinflussen. Der erlebte Kontrollverlust führt dann oft zu existenziellen Fragen wie: ‹Warum trifft es ausgerechnet mich?›» Aber genau darin sieht der Palliativmediziner auch Potenzial für spirituelles Wachstum am Lebensende.

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