Mittwoch, Oktober 30

Der mit 43 Jahren verstorbene Bernstein war der erste Ultra im Präsidentenamt eines Profiklubs. In nur anderthalb Jahren hat Bernstein den Berliner Verein geprägt.

Die vergangene Woche stand in Deutschlands Fussball im Zeichen der Abschiede. In München betrauerte der FC Bayern in der heimischen Arena den Tod der Überfigur Franz Beckenbauer. 25 000 Leute waren gekommen.

Anders waren die Bilder, die aus Berlin in die Republik gesendet wurden. Dort nahm der Anhang von Hertha BSC Abschied vom überraschend verstorbenen Präsidenten Kay Bernstein. Der Trauerzug war auf dem Weg ins Berliner Westend auf den ersten Blick kaum von einer der zahllosen Demonstrationen gegen rechts zu unterscheiden, zu denen am Wochenende in Deutschland aufgerufen worden war. 7000 Anhänger der Hertha waren auf den Beinen. Das dunkle Banner – weisse Schrift auf schwarzem Grund – trug die Aufschrift: «In tiefer Trauer um Kay».

Hertha ohne Bernstein klingt wie eine düstere Drohung

Der Marsch der 7000 kam allerdings ohne schrille politische Untertöne aus – und wirkte so wie ein Gegenmodell zu jenen Demonstrationen, bei denen sich die Zivilgesellschaft auf die Schulter klopfte. Im Sinne des mit 43 Jahren verstorbenen Präsidenten Bernstein dürfte die friedliche Versammlung jedenfalls gewesen sein. Hertha BSC zeigte im Augenblick des Verlustes Einigkeit. Der Zweitligamatch gegen Fortuna Düsseldorf (2:2) wurde nach einer Andacht von Vereinsvertretern in der Kapelle des Stadions und einer Schweigeminute angepfiffen.

7000 Hertha-Fans verabschieden Bernstein mit Trauermarsch

Pal Dardai, der Coach aus Ungarn, der seit Jahrzehnten als Spieler und als Trainer für die Hertha tätig ist, sagte am Rande des Spiels gegenüber Sky: «Kay war ein Mensch, der uns berührt hat. Er war ein Mensch, der nie von oben herab geredet hat. Er hat nie gefragt: Was ist gut für Kay? Er hat immer gefragt: Was ist gut für Hertha BSC?»

Bernstein erlag einem plötzlichen Herzversagen. Am Morgen des 16. Januar fand ihn seine Ehefrau leblos vor. Die Obduktion des Leichnams hat keine Auffälligkeiten ergeben.

Hertha BSC ohne Kay Bernstein: Das klingt wie eine düstere Drohung für diesen Klub, der alle paar Jahre zurückgeworfen wird und dann zu einem Neubeginn genötigt ist. Vor allem im ständigem Neubeginn besteht die Besonderheit der Hertha, die für sich in Anspruch nimmt, kein gewöhnlicher Klub zu sein.

Hauptstadtklub: So lautete das Etikett, das der Hertha früher einmal angehaftet hatte, nachdem 1997 der Aufstieg in die Bundesliga gelungen war und Berlin das beschauliche Bonn als Regierungssitz abgelöst hatte. Ein Klub von Format solle die Hertha werden; das wünschte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl den Berlinern.

Seither hat die Hertha kaum etwas unversucht gelassen, um zu Bedeutung zu gelangen; aber das Scheitern bleibt ihr treu. Rückschläge kennt der Anhang aus leidvoller Erfahrung. Doch der jüngste Schlag macht selbst diejenigen sprachlos, die schon mache Krise mit den Berlinern durchlitten haben: Bernsteins plötzlicher Tod stellt die Hertha vor eine Herausforderung, mit der niemand hat rechnen können.

Der Präsident Bernstein hatte einst Stadionverbot

Erst vor anderthalb Jahren, im Oktober 2022, entkam der Klub den Fängen des Investors Lars Windhorst. Windhorst, einst als Wunderkind der deutschen Wirtschaft bestaunt, gilt wegen undurchsichtiger Geschäftspraktiken als durchaus zwielichtige Figur. Er hatte viel mit dem Klub vor. Mit den Abermillionen des Parvenüs sollte ein Fussball-Unternehmen von grosser Strahlkraft aufgebaut werden. Doch auch Finanzspritzen von mehr als 300 Millionen Euro verhinderten Herthas Abstieg im Frühjahr 2023 nicht.

Wieder einmal waren die Berliner orientierungslos. Doch aus dieser Situation zeigte Bernstein einen Ausweg auf. Er war keiner aus dem Kreis der üblichen Verdächtigen, als er sich 2022 als Präsident bewarb. Bernstein war ein Mann der Kurve, ein ehemaliger Ultra. Er war Vorsänger einer Fan-Gruppierung. Ihm wurde einst sogar Stadionverbot erteilt.

Bernstein galt bei der Wahl als Aussenseiter. Sein Konkurrent war eine Berliner Lokalgrösse: der CDU-Politiker Frank Steffel. Der hatte bis über die Stadtgrenzen hinaus Bekanntheit erlangt, als er dem SPD-Politiker Klaus Wowereit bei der Wahl zum Regierenden Bürgermeister der Metropole unterlag und während des Wahlkampfes ein kurioses Bild produzierte: Als er mit Eiern beworfen wurde, suchte er Schutz hinter dem breiten Rücken des damalige CSU-Chefs Edmund Stoiber.

Bernstein, der Underdog, siegte geradezu triumphal im ersten Wahlgang gegen den Mann des Westberliner Establishments. «Ha Ho He. Es ist Realität» – mit diesen Worten gab er seinen Sieg auf Twitter (heute X) bekannt. Damit war der Ton gesetzt. Das war nicht das übliche Funktionärsgewäsch. Es war der Sound der Kurve. Sein Programm nannte der Präsident den «Berliner Weg».

Die Erfolge, die Bernstein verbuchen konnte, waren immaterieller Art. Auch unter seiner kurzen Regentschaft konnte die lange Zeit der Fehlentwicklung nicht korrigiert werden, die Hertha stieg in der Saison 2022/23 ab. Dennoch genoss der Präsident hohes Ansehen, ja mehr noch: Dass Bernstein innerhalb von nur anderthalb Jahren zu einer Identifikationsfigur wurde, zeigt, wie gross das Bedürfnis nach einer solchen Gestalt war.

Bloss entpuppten sich die ganz realen Zwänge als wenig romantisch. In Sachen Vermarktung wählte Hertha BSC den amerikanischen Sportmarketing-Spezialisten 777 Partners – es handelt sich dabei um einen Finanzinvestor, ein Private-Equity-Unternehmen. Für einen ehemaligen Ultra wie Bernstein könnte die Kluft eigentlich kaum grösser sein, doch es gelang ihm, Verständnis für diese Kooperation zu wecken.

Schon daraus wird ersichtlich, was für einen Mann die Hertha verloren hat: einen, der es als ehemaliger Ultra in neuer Funktion verstand, die Fans in einem Masse zu besänftigen, dass sich kein Protest gegen Partnerschaften breitmachte, die sonst als Ausverkauf gebrandmarkt worden wären.

Bernstein stellte sich den Zwängen des Profifussballs

Bernstein kommunizierte klug. Anstatt sich aufzureiben an den eitlen Weltklasse-Ambitionen, die dem Klub zum Verhängnis geworden waren, legte er Wert darauf, den Blick für das Mögliche zu schärfen. Darüber hinaus tat er etwas Ungewöhnliches im Profifussball, in dem vermeintliche Gewissheiten mitunter laut hinausposaunt werden: Bernstein liess die Fans an seinen Zweifeln teilhaben.

Er liess durchschimmern, wie schwer es ihm falle, sich vom Ideal eines nicht auf Kommerz ausgerichteten Klubs zu verabschieden und stattdessen das Mögliche zu erreichen, ohne dass die Hertha das Flair vollständig verliere. Bernstein klang wie ein idealistischer Politiker, der sich im Treibhaus des Parlaments mit Realitäten zurechtfinden muss. Das machte ihn zu einer Ausnahmeerscheinung im deutschen Profifussball.

Bernsteins Auftritte hatten trotz seiner tiefen Fankurven-Verwurzelung wenig mit Freibeuter-Romantik à la FC St. Pauli zu tun, wo häufig so getan wird, als sei das Geschäft egal. Auch vermochte er sich vom Stadtrivalen Union Berlin abzugrenzen, der gegenwärtigen Nummer eins in der Stadt. Union wird von den Hertha-Fans nicht bloss wegen des Erfolgs, sondern auch wegen der «street credibility» beneidet. Diese hat sich der Verein unter den Fussball-Nostalgikern auch ausserhalb Berlins erworben.

Bernstein hatte einen klaren Blick für das Mögliche mit der Hertha. Populären Irrtümern sass er nicht auf. Allenthalben wurde dem Klub ein gewaltiges Potenzial attestiert – wegen der Stadt mit ihren 3,8 Millionen Einwohnern, dazu noch das weite Brandenburger Umland, wo bis nach Leipzig abgesehen vom Lokalrivalen Union kein anderer Klub von Format zu finden ist, der mit der Hertha konkurrenzieren könnte.

Die Möglichkeiten sind kleiner, als es erscheint

Zwar liegt der Gedanke, dass die Möglichkeiten immens sind, tatsächlich nahe. Doch ein genauer Blick zeigt die Grenzen des Berliner Milieus. In Berlin sind viele Leute nur auf Zeit beheimatet. Etliche Fans bringen die Vorliebe für einen Klub aus der Heimat mit. Das Berliner Fussball-Reservoir ist kleiner, als es auf den ersten Blick erscheint.

Insofern war Bernstein zwar der Mann des Berliner Milieus, aber ohne den alten Mief. Dass er mit Konventionen brach, wurde ihm hoch angerechnet. Es konnten Kleinigkeiten sein, etwa der Umstand, dass nun keine Agentur mehr für die Organisation der Auswärtsreisen beauftragt wird, sondern dies aus der Geschäftsstelle heraus erledigt wird. «Es ist der Spagat zwischen den bestmöglichen Rahmenbedingungen, ohne Geld zum Fenster rauszuwerfen», sagte Bernstein in einem seiner letzten Interviews. Indem er die Abkehr vom ruinösen Glamour nicht predigte, sondern praktizierte, wurde er zu einer grossen Figur des Vereins. Kay Bernstein zu ersetzen, ist kaum möglich.

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