Montag, September 30

Auch Jahre nach der Niederlage des Islamischen Staats leben Tausende Kinder von Jihadisten in Lagern. Obwohl sie selbst keine Schuld an den Verbrechen des IS tragen, schlägt ihnen Feindseligkeit entgegen. Oft sogar aus der eigenen Familie.

Inmitten von Zelten mit dem Logo des Uno-Flüchtlingshilfswerks spielt ein Dutzend Jungen Fussball. Trotz der unbarmherzigen Sonne und der glühenden Hitze kicken sie den Ball unter den amüsierten Blicken ihrer Schwestern und Cousinen hin und her. Ghazal Saha verfolgt das Spiel aus dem Schatten eines zusammengeflickten Zeltes. Die ältere Frau mit dem wettergegerbten Gesicht, das von einem schwarzen Schleier umrahmt wird, kümmert sich seit dem Tod ihrer letzten Söhne vor acht Jahren um ihre zwanzig Enkelkinder.

Die Matriarchin lebt mit ihren Enkeln im Flüchtlingslager Hassan Sham im Nordirak, rund 30 Kilometer östlich von Mosul. Sie hat alle ihre acht Söhne verloren: Fünf wurden 2016 während der Belagerung von Mosul bei einem Luftangriff getötet. Die anderen drei wurden vor so langer Zeit von den irakischen Regierungstruppen und den kurdischen Milizen verhaftet, dass Saha die Hoffnung verloren hat, sie wiederzusehen. Sie alle waren Kämpfer für den Islamischen Staat.

Seit dem Fall von Mosul im Jahr 2017 lebt die Familie in Zelten in Vertriebenenlagern. Zunächst waren sie im Lager Jidda untergebracht, wo die Familien der Jihadisten zunächst gesammelt wurden. Später zogen sie nach Hassan Sham in der halbautonomen Region Kurdistan. «Wir sind seit mehr als vier Jahren hier. Diese Kinder haben nur Gott und mich, die sich um sie kümmern», seufzt Saha und lässt ihre Gebetskette zwischen den Fingern gleiten.

Ohne Ausweise gibt es keine Hilfe vom Staat

Hinter einem Vorhang sind fünf Matratzen gestapelt, auf denen die älteren Jungen schlafen. Wie viele Kinder, die im Machtbereich des IS geboren wurden, haben Sahas Enkel keine Ausweispapiere. Diejenigen, die vor 2014 geboren wurden, haben ihre Papiere im Chaos der Schlacht um Mosul verloren. «Ohne Ausweispapiere gibt es keine Rationskarte. Wir erhalten daher jeden Monat nur die Ration unserer Grossmutter», erläutert der 16-jährige Anas. Damit kämen sie lediglich ein paar Tage über die Runden, dann müssten sie sich selbst versorgen.

Etwas weiter weg sitzt Anas› Cousin Abdelaziz auf einem Plastikstuhl, in sein Telefon vertieft. Der 17-Jährige hängt nicht gern mit den anderen im Lager herum. Während sie sich versammeln, um im Fluss schwimmen zu gehen, bleibt er lieber im Zelt. «Jeder hier weiss, wer wir sind. Einigen ist es egal, andere weigern sich, mit uns zu sprechen», sagt der junge Mann, seine Augen hinter einer dicken Locke tiefschwarzen Haars versteckt, und scrollt durch kurze Tiktok-Videos auf seinem Handy.

Da er zu Hause keinen Internetzugang hat, schaut er sich immer wieder dieselben Videos an, die er in der Nähe der Büros des Lagers heruntergeladen hat, wo das Wifi kostenlos ist. «Auf diese Weise kann ich sehen, was ausserhalb des Lagers, in der übrigen Welt, passiert», sagt er. Er selbst postet nichts; sein Profil bleibt leer. «Ich bin kein Tiktoker», sagt er und lächelt. «Ich schaue nur zu.»

Zu Hause haben die Kinder zu viele Feinde

Insgeheim träumt der junge Mann von einer Flucht, von einem Neuanfang. «Ich möchte Bauer werden, das Land bearbeiten, wie es meine Familie immer getan hat», sagt er schüchtern. «Aber dafür muss ich weit weg gehen, irgendwohin, wo mich niemand kennt. Wo niemand meinen Vater kennt.» Wie andere Familien von IS-Mitgliedern im Lager wissen auch Anas, Abdelaziz und ihre Cousins, dass sie niemals nach Hause zurückkehren können. «Wir haben zu viele Feinde, sogar in unserer eigenen Familie», sagt Abdelaziz.

Grossmutter Saha fügt hinzu: «Mein Bruder weigert sich, uns zurückkehren zu lassen. Er und seine Söhne haben gegen den Islamischen Staat gekämpft. Für ihn sind wir die Verkörperung des Bösen.» In einer Gesellschaft, in der die Erinnerung an die Greueltaten des IS noch lebendig ist, haben die Waisen des Kalifats Mühe, ihren Platz zu finden. Insbesondere die Jungen im Teenageralter riskieren bei der Rückkehr in ihre Dörfer, als Vergeltung für die Verbrechen ihrer Väter ermordet zu werden.

«Wenn wir zurückkehren, werden sie Abdelaziz und Anas töten. Das ist der Blutpreis. So funktioniert es», sagt Saha. Die Rückkehr in ihre Dörfer ist nur mit der Genehmigung der Stammesführer möglich. Diese Genehmigung kostet jedoch oft Tausende Dollar. Die 37-jährige Dallal Ali Khela etwa müsste 800 000 Dinar (rund 532 Schweizerfranken) für sich und ihre Töchter zahlen. «Wie soll ich das Geld aufbringen?», klagt sie, die ihre Töchter Amal und Nur, 14 und 8 Jahre alt, allein aufzieht.

Ihr Mann, ein IS-Kämpfer, wurde 2015 getötet. Wie Saha lebt sie in extremer Armut und ist auf Rationspakete und das wenige Gemüse angewiesen, das sie in dem kleinen Garten neben ihrem Zelt anbauen kann. Da sie das Bestechungsgeld nicht zahlen kann, bleiben ihre Töchter Amal und Nur stigmatisiert. «Ich kann meine Töchter nicht so beschützen, wie es ein Mann tun würde», gibt sie zu.

Dallal Ali Khela wischt sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen, als sie erzählt, wie ihre Töchter von ihrem eigenen Bruder um das väterliche Erbe gebracht wurden – eine Farm in der Ninive-Ebene. «Mein eigener Bruder», klagt sie. «Er hat mich bei den Behörden als IS-Mitglied angezeigt und die Anzeige nur unter der Bedingung zurückgezogen, dass ich auf jeden Anspruch auf den Hof verzichte», sagt sie. «Ich bin eine Frau; mein Stamm hat beschlossen, uns nicht zu schützen, also sind wir auf uns allein gestellt.»

Für viele Familien sind die Kinder eine Belastung

In Kabr al-Abd («Grab des Sklaven» auf Deutsch), einem Dorf am Rande von Mosul, hat 2014 fast ein Drittel der Männer dem schwarzen Banner des IS die Treue geschworen. Kaysar war einer von ihnen. Er starb 2016 und hinterliess eine Frau und einen drei Monate alten Sohn, Azel. Nach der Befreiung von Mosul verschwand die Frau und liess den Sohn zurück. «Sie fand einen Mann, der bereit war, sie zu heiraten, und liess das Kind zurück, weil es eine zu grosse Last war», sagt Um Kaysar, seine Grossmutter, die ihn jetzt aufzieht.

Laut Faisal Tarek Rashid, dem Leiter der Waisenhäuser und Jugendeinrichtungen in der Provinz Bagdad, ist dies im Irak nicht ungewöhnlich. «In den Familien sehen viele die Kinder als wirtschaftliche, aber vor allem als soziale Belastung», sagt er. Kinder, die keine Familie haben, die sie aufnehmen kann, müssen ins Waisenhaus. In Bagdad wachsen hinter den hell gestrichenen Wänden einer solchen Einrichtung immer noch drei IS-Kinder auf.

Sie sind die Söhne ausländischer Kämpfer aus Tadschikistan, Usbekistan und der Türkei, die während des IS-Kalifats im Irak geboren wurden. Der zwölfjährige Sahed, dessen Haare ordentlich zur Seite gekämmt sind, hat nur vage Erinnerungen an seinen Vater. «Ich erinnere mich, wie die Armee unser Haus umstellte. Ich sah, wie mein Vater getötet wurde. Ich wollte etwas Wasser holen, aber die Soldaten haben mich mitgenommen. Seitdem habe ich nichts mehr von meiner Mutter gehört», sagt er leise.

Der junge Mohammed zeigt in dem Schlafsaal, den er mit seinen Freunden teilt, die Zeichnungen, die seine Hefte füllen. Als die Erwachsenen ihn loben, erhellt ein schüchternes Lächeln sein Gesicht, während er die Seiten umblättert. Ein Sozialarbeiter, der den Besuch begleitet, sagt, viele Kinder kennten ihre Geschichten nicht. In der Vergangenheit habe es Probleme gegeben. So sei ein Kind von zwei anderen Jungen geschlagen worden, deren Eltern vom IS getötet worden waren.

Die Regierung hat viele Kinder aus Syrien zurückgeholt

Krieg, Gewalt und Entbehrungen haben tiefe, dauerhafte Narben hinterlassen. «Posttraumatischer Stress, Depression, Isolation, Aggression, Wut», zählt Sheila Khaled Arif, die Leiterin des Waisenhauses, auf. «Letztes Jahr mussten wir eine siebenköpfige Familie in ein spezielles Internierungszentrum in Kerbala verlegen. Wir konnten mit ihrer Gewalt nicht umgehen. Sie schlugen die anderen Kinder, sangen jihadistische Lieder und griffen sogar eine Mitarbeiterin an, die keinen Schleier trug.»

Auch heute noch leben Tausende von Waisenkindern in al-Hol und anderen Lagern in Syrien, wo die Frauen und Kinder der Jihadisten von kurdischen Milizen festgehalten werden. Das Lager al-Hol wird von den irakischen Behörden als «tickende Zeitbombe» bezeichnet. Die Kinder gelten als anfällig für Rekrutierung. Seit Mai 2021 hat die irakische Regierung 8199 der rund 30 000 Iraker, die sich in dem Lager in Syrien aufhielten, in ihre Heimat zurückgeholt.

Nach einer langen und beschwerlichen Reise wurden sie in einem speziellen Flüchtlingslager in der Ninive-Ebene untergebracht. Andere wurden auf private Initiative von Stammesführern mit der stillschweigenden Zustimmung der Regierung repatriiert. «Meistens sind sie bei ihrer Ankunft erleichtert, denn die Lebensbedingungen im Irak sind deutlich besser als in Syrien», sagt eine junge Krankenschwester in Mosul, die lieber anonym bleiben möchte.

Die junge Frau begleitet regelmässig die halboffiziellen Konvois aus Syrien. Sie zeichnet ein tragisches Bild von der Situation der Kinder: «Diese Kinder waren jahrelang Hauptziel der IS-Propaganda; sie sind unterernährt, manchmal gewalttätig und leiden unter zahlreichen Traumata», sagt sie. Die irakische Gesellschaft ist nach wie vor geteilter Meinung über das Schicksal dieser Kinder, die abwechselnd als Opfer oder potenzielle Bedrohung angesehen werden.

Viele der alten Missstände sind weiterhin ungelöst

«Die Situation ist von Kind zu Kind unterschiedlich», sagt Faisal Tarek Rashid, der Leiter der Waisenhäuser und Vertriebenenlager in der Provinz Bagdad. «Einige sind zu jung, um sich an den IS zu erinnern, während andere nach dem Fall von Mosul jahrelang unter dieser Ideologie gelebt haben.» Bis heute ist die Ideologie der Jihadisten präsent. Und die Missstände, die vor zehn Jahren Teile der sunnitischen Bevölkerung zum IS getrieben haben, sind nach wie vor ungelöst.

In Kabr al-Abd haben die meisten Familien einen Sohn, einen Ehemann oder einen Vater für das Kalifat verloren. Niemand bekennt sich heute in dem Dorf bei Mosul mehr offen zum IS. Der Zentralregierung in Bagdad und den schiitischen Milizen, die heute grossen Einfluss im Staat haben, begegnet man jedoch mit stiller Feindseligkeit. Zugleich haben viele der Einwohner allerdings nicht vergessen, welches Leid der IS über die Gemeinde und ihre Familien gebracht hat.

«Solange ich lebe, werde ich nie wieder den Fehler begehen, ein Kind zu diesen Leuten gehen zu lassen», sagt Um Kaysar mit einem Seufzen, während sie von der Tür ihres Hauses aus ihrem achtjährigen Enkel beim Spielen im Garten zuschaut. «Möge Gott mich erhören, ich würde lieber sterben, als diesen Schmerz noch einmal zu ertragen.»

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