In seinem erhellenden Buch «Das Echo der Zeit» untersucht Jeremy Eichler am Beispiel von vier Meisterwerken aus dem 20. Jahrhundert, wie Musik das kulturelle Gedächtnis bewahren kann – auch gegen politische Widerstände.
Am Morgen des 29. September 1941 trieb ein SS-Sonderkommando mehr als 33 000 jüdische Einwohner der Stadt Kiew zu der Schlucht Babin Jar. Noch bis zum folgenden Tag verübten die Deutschen in der Ukraine das grösste Einzelmassaker des Zweiten Weltkriegs. Männer, Frauen und Kinder wurden mit Maschinengewehren niedergemetzelt und stürzten in die Tiefe. Weitere Zehntausende Juden fielen in den folgenden Jahren in Babin Jar dem «Holocaust durch Kugeln» zum Opfer.
Nach dem Krieg schwieg der als Antisemit berüchtigte Diktator Josef Stalin zu dem Genozid: Er passte nicht in das Bild vom glorreichen Sieg der Sowjetunion – zumal ukrainische Milizionäre ebenfalls an den Greueltaten der Nazis beteiligt waren. Bei dieser Linie blieb auch Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow. Das Massengrab wurde schliesslich geflutet und verschwand unter Schlamm, bis ein Dammbruch 1961 zu einer neuen Tragödie führte. Als in den 1970er Jahren dort ein erstes Denkmal errichtet wurde, fand der Massenmord an Juden aber immer noch keine Erwähnung.
Was kann die Kunst einer solchen Geschichtsvergessenheit entgegensetzen? Der amerikanische Kulturhistoriker Jeremy Eichler, bis vor kurzem Chefkritiker für klassische Musik bei der Zeitung «Boston Globe», befasst sich in seinem Buch «Das Echo der Zeit» exemplarisch mit vier Kompositionen von Richard Strauss, Arnold Schönberg, Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch, die zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust anregen. Mehr als steinerne Denkmäler, die von Verfall und Zerstörung bedroht sind, könnten musikalische Mahnmale lebendige Verbindungen zur Vergangenheit herstellen, lautet Eichlers Kernthese. Durch die Unmittelbarkeit des Klanges könne die Musik zudem eine Brücke schlagen zwischen Intellekt und Gefühl. Sie werde somit zum Medium des kulturellen Gedächtnisses schlechthin.
Komponiertes Gedenken
Im Sommer 1961, kurz nachdem der Kiewer Stadtteil Kureniwka von der Schlammlawine überrollt worden war, reiste der Dichter Jewgeni Jewtuschenko von Moskau zu der Todesschlucht. Der verheerende Dammbruch konfrontierte ihn auch mit den vorsätzlich verdrängten Erinnerungen an die Massenerschiessungen. Erschüttert schrieb er ein Gedicht mit der anklagenden Zeile «Es steht kein Denkmal über Babi Jar». Der Satz war als Abrechnung mit dem in der UdSSR grassierenden Antisemitismus zu verstehen.
Schostakowitsch zeigte sich von den Versen derart ergriffen, dass er darauf den ersten Satz seiner 13. Sinfonie komponierte. Auch die weiteren vier Sätze des Werkes basieren auf Gedichten Jewtuschenkos. Trotz massivem Druck kam die «Babi Jar»-Sinfonie Ende 1962 unter Leitung von Kirill Kondraschin in Moskau zur Uraufführung. Unterdessen wurde die Schlucht aufgefüllt, auch die Überreste des benachbarten jüdischen Friedhofs verschwanden. Auf dem Gelände wurden ein Fernsehturm und Wohnblöcke gebaut. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion entstand dort ein «Denkmalschutzgebiet», wo auch der jüdischen Opfer gedacht wird.
Zu seiner 14. Sinfonie wurde Schostakowitsch wiederum von Brittens «War Requiem» inspiriert, ebenfalls ein Vokalwerk von sinfonischen Ausmassen. Uraufgeführt wurde es im Mai 1962 in der nach deutschem Bombardement wiederaufgebauten Kathedrale der englischen Stadt Coventry. Als Britten das Requiem komponierte, überlagerte das Gedenken an den Ersten Weltkrieg in Grossbritannien noch die Erinnerung an die jüngere Vergangenheit. In seiner Totenmesse für die Kriegsopfer verwendete der überzeugte Pazifist Britten Verse des 1918 in Frankreich gefallenen Dichters Wilfred Owen.
Eichler legt anschaulich offen, wie das «War Requiem» die Tugenden hinterfragt, auf die sich steinerne Kriegsdenkmäler für gewöhnlich stützen – nämlich Aufopferung des Einzelnen für den Staat und Anerkennung einer Gesellschaftsordnung, die das Land erst in den Krieg geführt hat. Die eindrücklich vertonten Gedichte Owens zeigen demnach das Scheitern eines Systems, das Menschen mit ähnlichen Lebensträumen zu erbitterten Feinden erklärt. Auch wenn Britten an einem ehrenden Gedenken an alle Toten gelegen war, bleibt der Holocaust hier allerdings ausgeklammert.
Gefallene Ideale
Anders als Schostakowitsch und Britten befand sich Schönberg nach der «Machtergreifung» wegen seiner jüdischen Herkunft in akuter Gefahr. Dabei war er 1898 eigens zum protestantischen Glauben übergetreten, um die deutsche Musik – wie er in erstaunlicher nationalistischer Verblendung meinte – in eine ruhmreiche Zukunft zu führen. 1933 rekonvertierte er in Paris zum Judentum, bevor er in die USA emigrierte. Im Auftrag der Koussevitzky Music Foundation schrieb er 1947 das Melodram «Ein Überlebender aus Warschau», das von der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto handelt.
Dass Schönberg kurz nach Kriegsende den Holocaust zum Thema gemacht habe, sei aber selbst in den USA grossen Musikinstitutionen zu heikel gewesen, schreibt Eichler. Deshalb wurde das Stück 1948 in einer Sporthalle in Albuquerque in New Mexico uraufgeführt, mit dem aus Wien stammenden jüdischen Dirigenten Kurt Frederick am Pult und einem Amateurchor aus Cowboys und Farmern.
Viele deutsche Opern- und Konzerthäuser, aus denen die Nazis die Juden vertrieben hatten, wurden durch Bombenangriffe der Alliierten in Schutt und Asche gelegt. Unter dem Eindruck dieser Zerstörungen komponierte Richard Strauss, selbst durch die Zusammenarbeit mit den Nazis kompromittiert, seine «Metamorphosen für 23 Solostreicher». Diese Elegie auf die deutsche Kultur wurde 1946 in Zürich von dem Collegium Musicum und dem Mäzen Paul Sacher der Öffentlichkeit vorgestellt. Darin baute Strauss ein Zitat aus dem Trauermarsch der «Eroica» von Beethoven ein und gemahnte damit an gefallene Ideale.
Eichler bietet mit seinem gut lesbaren Buch nicht zuletzt eine Wegleitung für ein vertieftes Hörverständnis. Durch ein solches «deep listening» könne aktives Erinnern praktiziert werden. «Sobald ein Werk in die Welt eintritt, wird es zu einer Art Palimpsest, dem jede Aufführung, jeder Musiker, jeder Zuhörer eine neue Textschicht hinzufügt – und damit eine neue Bedeutungsebene. Mit der Zeit werden grosse Meisterwerke somit selbst zu riesigen Archiven des öffentlichen Gedächtnisses.»
Jeremy Eichler: Das Echo der Zeit. Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2024. 464 S., Fr. 46.90.