Der Waffenlauf gilt seit Jahrzehnten als Auslaufmodell. Doch der «Frauenfelder» im «Wimbledon des Waffenlaufs» hat sich über die Zeit gerettet. Wie kommt das?
2006 fand der letzte Zürcher Waffenlauf statt. Und nachdem die Veranstaltung zu Grabe getragen worden war, sagte der Organisator Stefan Holenstein desillusioniert: «Der Waffenlauf wird aussterben, das ist ganz klar.» Faktisch ist das bestimmt richtig, fast alles ist endlich auf dieser Erde. Aber noch hat sich der Waffenlauf nicht in die gleiche Kategorie eingereiht wie der Dodo.
Es ist unanständig früh an diesem Sonntag, und der Weg zum Besammlungspunkt für den 88. Frauenfelder Militärwettmarsch führt am Amt für Denkmalpflege des Kantons Thurgau vorbei. Was passend ist, weil es hier ja um nichts anderes geht als um die hohe Kunst, ein Relikt halbwegs würdevoll zu konservieren.
Der erste «Armee-Gepäckmarsch» fand 1916 in Zürich statt, er diente der Leibesertüchtigung während des Ersten Weltkriegs. Später waren Waffenläufe die einzigen Laufveranstaltungen im Land – lange bevor das erste Fitnesscenter eröffnete und als das Joggen seinen Siegeszug noch nicht angetreten hatte.
Wer früher als Erster in Wil war, gewann eine Hellebarde
Entsprechend waren Waffenläufe eine grosse Sache mit bis zu 9000 Teilnehmern und hohem Publikums- und Medieninteresse. Das «Sportpanorama» und dessen Vorläufer opferten kostbare Radball-Minuten, um sich ausführlich den Heldentaten von Albrecht Moser zu widmen. Dieser war in den 1980er Jahren Seriensieger, wurde von der Armeeführung aber verwarnt, weil er in einem Interview auf die Frage, wie der Waffenlauf den Soldaten eigentlich diene, antwortete: «Damit sie schnell flüchten können».
Ein Grund für die hohe TV-Präsenz sei der Umstand gewesen, dass die Läufe zur Mittagszeit bereits beendet waren und die Videobänder entsprechend zeitig in Leutschenbach eintrafen, verriet der Moderator Bernard Thurnheer, als er für einmal nicht damit beschäftigt war, mit der roten «Benissimo»-Kugel eine Polstergruppe an den Mann zu bringen.
Spätestens seit der Jahrtausendwende aber ist die Popularität der Waffenläufe stark rückläufig, vielerorts wurden sie ersatzlos gestrichen. Es gab die Theorie, dass eine Korrelation zu den Taten von Mischa Ebner besteht, der in Bern 2002 eine Frau tötete. Ebner war einer der besten Waffenläufer der Schweiz, 1998 gewann er in Frauenfeld. Aber diese Schlussfolgerung ist verkürzt und unfair. Ebner hätte genauso gut Stabhochspringer oder Imker sein können. Es wäre grotesk, wegen eines Einzeltäters eine Sportart oder ein Hobby unter Generalverdacht zu stellen und zu stigmatisieren.
Dem Waffenlauf halfen auch zaghafte Modernisierungsbemühungen wenig; seit 1986 dürfen Frauen mitlaufen und seit 1991 Turnschuhe getragen werden. Letzteres hat etwas Eigenwilliges: hier die strenge, schlichte Militärkluft, dort die neongrellen Laufschuhe, die ein Verbrechen sind gegen jeglichen Sinn für Ästhetik.
Was sich auch gewandelt hat: An den Verpflegungsstellen werden längst nicht mehr Militärbiskuits gereicht, sie werden nur noch vereinzelt von Zuschauern angeboten. Und am «Frauenfelder» ist betrüblicherweise der sogenannte Durchgangspreis abgeschafft worden: Wer früher als Erster in Wil war, gewann eine Hellebarde. Was man halt so benötigt im täglichen Gebrauch.
Für den Sieger gibt es knapp 300 Franken und ein Glas Honig
Der «Frauenfelder», medial als «Wimbledon der Waffenläufe» apostrophiert, hat sich mit einem Kunstgriff über die Zeit gerettet: Heute kann hier die breite Masse gleichentags in normalen Volksläufen rennen. «Als reiner Waffenlauf wäre das Überleben schwierig geworden», sagt Ernst Huber vom Organisationskomitee.
An diesem Sonntag bestreiten gut 200 Personen den Waffenlauf. Die Vorschriften sind simpel: Es braucht einen Tarnanzug 90, eine 6,2 Kilogramm schwere «Packung» und ein Gewehr. Ein paar Teilnehmer haben sich Kantons- oder Landesflaggen oder sogar Blumen in den Gewehrlauf gesteckt.
Natürlich geht es nicht ganz ohne Absurditäten der militärischen Befehlskette. Ein paar Minuten vor dem Start gebietet ein Offizieller dem versammelten Teilnehmerfeld, dass man jetzt stramm zu stehen habe. Ehe er dem nur Zentimeter neben ihm stehenden OK-Präsidenten pflichtbewusst bescheidet: «Waffenläufer bereit». Und dann, etwas leiser mit der einleuchtenden Präzisierung: «zum Waffenlauf».
Daneben gibt es schweizerischen Smalltalk: «Ah, Hanspeter, läufst du dich schon warm?» Obwohl man sieht, dass Hanspeter sich nicht warmläuft, weil er sonst nicht Teil dieses Zwiegesprächs wäre.
Die schnellsten Läufer brauchen für die 42,2 Kilometer etwas weniger als drei Stunden; der Sieger erhält knapp 300 Franken und ein Glas Honig. Es bleibt die Frage, woraus der Reiz besteht und wer sich 2024 dafür entscheidet, seinen Sonntag so zu gestalten? Sind das Durchdiener, die sich am Wochenende sonst langweiligen? Raphael Josef lacht und sagt: «Ich war tatsächlich Durchdiener. Aber nach meiner Erfahrung ist es eine falsche Annahme, dass sich das Teilnehmerfeld nur aus verbissenen Militärfanatikern speist.»
J0sef muss es wissen: Er hat seine Heimrennen mehrfach gewonnen. Er habe nach einer Herausforderung gesucht, die den Marathon noch ein bisschen härter mache, sagt er. In diesem Jahr zog er einen Start am regulären Halbmarathon vor und erklärt: «Ich starte im Dezember an einem Marathon in Valencia, da hat der Waffenlauf nicht in die Vorbereitung gepasst. Er ist hart, bei diesen Temperaturen sowieso. Letztes Jahr habe ich nach dem Sieg verhältnismässig lange gelitten.»
Noch hat sich Josef nicht entschieden, ob er noch einmal einen Waffenlauf bestreitet. Sieht er eine Zukunft für die Sportart? «Für Spitzensportler ist der Reiz schon lange nicht mehr gegeben, es fehlt auch an Konkurrenz. Aber es ist eine schöne Tradition. Und in der Ostschweiz quasi ein Volksfest. Auf der Strecke erhält man als Waffenläufer viel mehr Zuspruch, als wenn man in Zivil rennt.»
Es scheint, als würde sich das mit dem Aussterben noch ein bisschen hinziehen.