Der Bundesrat will zum Arbeitnehmerschutz eine Bestimmung ins Schweizer Gesetz schreiben, die dem ausgehandelten EU-Vertrag direkt zu widersprechen scheint. Findige Juristen sind nun gefragt.
Man nehme an, ein Pole wird von seinem Arbeitgeber in Warschau für drei Monate Arbeit auf eine Schweizer Baustelle entsandt. In solchen Fällen gelten Schweizer Lohnregeln. Der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» gilt in der Schweiz und in der EU. Dieser Grundsatz ist auch im ausgehandelten Vertrag zum künftigen Verhältnis EU – Schweiz verankert.
Der besagte Grundsatz gilt in der EU aber nicht für Spesen. Laut der Ergänzung von 2018 der massgebenden EU-Entsenderichtlinie gelten für entsandte Erwerbstätige bei «Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten» die Regeln des Sendelands und nicht jene des Gastlands. Im genannten Beispiel würden also nach dem Grundsatz der EU-Richtlinie für Schweizer Hotelrechnungen Entschädigungen nach polnischen Standards anfallen. Schweizer Standards würden bei Spesen des Betroffenen nur für zusätzliche Arbeitsreisen innerhalb der Schweiz gelten.
Diese Bestimmungen der EU-Entsenderichtlinie erscheinen kurios. Die Spesenregelung widerspricht dem EU-eigenen Grundsatz, wonach jeweils die Arbeitsregeln am Ort der Arbeit gelten sollen. Doch der Mensch und damit die Politik sind oft widersprüchlich. Die Richtlinie war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Hochlohn- und Tieflohnländern in der EU.
EU blieb offiziell hart
Die Schweiz wollte im Vertrag mit der EU verankern, dass bei Arbeit von Entsandten aus der EU in der Schweiz in allen Fällen hiesige Spesenregeln gelten. Die EU blieb aber hart: Sie konnte nicht wegen der Schweiz die EU-Entsenderichtlinie revidieren, und sie wollte der Schweiz nicht mehr Spielraum geben, als die EU-Mitglieder haben.
Für die Sozialpartner in der Schweiz ist die EU-Spesenregelung ein Ärgernis. Denkbar wäre ein «italienischer» Umgang damit: Die Schweiz unterschreibt den EU-Vertrag und ignoriert einfach den Spesenteil. Viele EU-Länder halten sich laut Schweizer Angaben in der Spesenfrage auch nicht an die Richtlinie – ohne dass diese Länder reihenweise von der EU-Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren eingedeckt würden. Die EU-Kommission würde laut Beobachtern auch der Schweiz kaum das Leben schwermachen, wenn Bern auf Schweizer Spesenstandards beharrte.
Doch bei allfälligen Klagen in der Schweiz wäre nicht sicher, wie das Bundesgericht entschiede. Vor allem die Gewerkschaften forderten deshalb eine Verankerung der Schweizer Spesenstandards für entsandte Arbeiter aus der EU im hiesigen Gesetz. Genau dies will der Bundesrat nun anpacken, wie er am Mittwoch erklärte.
Würde der Bundesrat somit im Fall einer Akzeptierung des EU-Vertrags quasi im gleichen Atemzug einen Vertragsbruch ins Schweizer Gesetz schreiben wollen? Bundesvertreter verwiesen am Mittwoch auf eine externe Studie, wonach der ausgehandelte Vertrag und die EU-Entsenderichtlinie in der Spesenfrage erhebliche Spielräume offenliessen. Zu den genannten Argumenten zählen der im Vertrag wie in der Richtlinie verankerte Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und die Praxis in vielen EU-Ländern. Auch EU-Vertreter sollen die Schweiz auf Spielräume hingewiesen haben.
All dies mag politische Linderung bringen, aber für eine schlüssige juristische Rechtfertigung braucht es eine detaillierte Analyse. Der Bund will die erwähnte Studie dieses Frühjahr publizieren. Einen möglichen Weg zeigte die Freiburger Rechtsprofessorin Astrid Epiney in einem Aufsatz von 2024 auf. Laut ihrer Analyse ist die Spesenregelung der EU-Entsenderichtlinie nicht so eindeutig, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Sie ortet zum einen einen gewissen Spielraum darin, dass Entsendungszulagen im Unterschied zu Spesen als Lohnbestandteil gelten und die Abgrenzung zwischen den beiden Zahlungsarten schwierig sein könne.
Chance von 50 Prozent?
Zum andern verweist Epiney auf die EU-Rechtsprechung und die Ziele der Richtlinie wie etwa den sozialen Schutz: Auf dieser Basis sei es möglich, dass bei Entsendungen zwischen Ländern mit hohen Unterschieden in den Lebenskosten Spesenstandards gemäss dem Gastland zulässig seien. Im Gespräch schätzt die Europarechts-Expertin die Wahrscheinlichkeit dafür «über den Daumen gepeilt» auf «plus/minus 50 Prozent».
Unsicherheit gibt es auch beim Bundesgericht in der Schweiz. Dies selbst bei Verankerung des Prinzips «Schweizer Spesen für Arbeit in der Schweiz» im hiesigen Recht. Bei Konflikten zwischen Landesrecht und völkerrechtlichen Verpflichtungen gibt das Bundesgericht im Prinzip dem Völkerrecht den Vorzug. Ausser wenn der Gesetzgeber in der Schweiz völkerrechtliche Verpflichtungen bewusst missachten wollte.
Doch das Bundesgericht urteilte 2015, dass Schweizer Verpflichtungen aus dem Abkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit in jedem Fall dem Landesrecht vorgingen. Damit gäbe eine gesetzliche Verankerung der Schweizer Spesenstandards kaum zusätzliche Rechtssicherheit. Astrid Epiney verweist indes in einem neuen Aufsatz auf ein jüngeres Urteil des Bundesgerichts (2022). Eine mögliche Lesart jenes Entscheids laut Epiney: Der absolute Vorrang der Freizügigkeitsrechte gemäss EU-Abkommen gelte nur für Grundrechte wie etwa die Niederlassungsfreiheit und nicht für Nebenschauplätze wie Spesenregeln. Wie so vieles in der Juristerei ist aber auch dies nicht gesichert.
Die Moral der Geschichte: Mit kreativen Juristen sind manche Turnübungen möglich, doch Garantien zur Gerichtsfestigkeit kann keiner liefern.