Donnerstag, Oktober 3

Warum töten ältere Menschen ihre Partnerinnen und Partner – und dann sich selbst? Auf den Spuren eines tragischen wie rätselhaften Phänomens.

Gilles Knaus (Name geändert) ist gerade im Home-Office, als er in der Wohnung über ihm einen dumpfen Aufprall hört. Es folgen Schreie. Knaus ist beunruhigt, denn die Wohnung gehört seinen Schwiegereltern. Er rennt nach oben und klingelt an der Tür. Sein Schwiegervater öffnet ihm, er blutet aus Mund und Nase. In einem Nasenloch steckt WC-Papier.

Das Blut stammt von einer grossen Wunde unter dem linken Auge. Der Schwiegervater ist völlig verwirrt. Was passiert sei, will Knaus wissen. Der 90-Jährige findet keine Antwort. Wo denn seine Frau sei. Der Mann deutet aufs Schlafzimmer.

Dort sieht Knaus seine 82-jährige Schwiegermutter auf dem Boden liegen. Er rennt nach unten, in seine Wohnung, und wählt den Notruf. Als die Rettungssanitäter eintreffen, finden sie eine tote Frau vor. Und ihren schwerverletzten Ehemann.

Beide mit Schusswunden am Kopf.

Es ist Ende September 2019, ein sonniger Herbstnachmittag in Küsnacht an der Zürcher Goldküste, als die Polizei mit der Spurensicherung beginnt. Die Ermittler fragen sich: Was ist hier passiert?

Es gibt viele Begriffe für Taten wie diese: Alterssuizid, versuchte Tötung, erweiterter Selbstmord. Aber keiner der Begriffe trifft so richtig zu, weil sie das, was geschehen ist, nur unzureichend beschreiben. Die Ratlosigkeit, das Phänomen zu benennen, zeigt die gesellschaftliche Ohnmacht gegenüber diesem Thema.

Hier bekommen Sie Hilfe:

Wenn Sie selbst Suizidgedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen. Spezielle Hilfe für Kinder und Jugendliche gibt es unter der Nummer 147.

Hilfestellungen bei Gewalt im Alter finden Sie bei der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (Tel. 0848 00 13 13). Beratung um Fragen des Alters bietet auch Pro Senectute an.

Aber das, was in Küsnacht passiert ist, geschieht immer wieder. Wie Anfang Juni in Knonau, einer kleinen Zürcher Gemeinde an der Grenze zum Kanton Zug: Ein älteres Ehepaar liegt tot in der Wohnung. Beide weisen Schussverletzungen auf.

Die Polizei schreibt später in einer Mitteilung, Angehörige hätten sie alarmiert, nachdem sie das betagte Paar nicht mehr hätten erreichen können. Als die Polizei in die Wohnung kommt, stösst sie auf die Leichen der beiden Schweizer. Irgendwo liegt ein Abschiedsbrief. Bald wird klar: Der 80-jährige Ehemann hat seine zwei Jahre jüngere Ehefrau erschossen und sich dann selbst gerichtet.

Meist sorgen solche Taten kaum für Aufsehen. Eine kurze Meldung in den Zeitungen, mehr nicht. Dabei bleibt eine Frage ungeklärt: Warum töten ältere Menschen ihre Partnerinnen und Partner – und dann sich selbst?

Die NZZ hat in mehrere Einstellungsverfügungen ähnlich gelagerter Fälle Einsicht genommen, so auch in jenen von Küsnacht. Dabei zeigte sich vor allem ein Bild: Es handelt sich um ältere Menschen, die nicht mehr weiterwissen. Bis sie schliesslich davon überzeugt sind, dass es richtig ist, ihrem Leben ein Ende zu setzen – obwohl es für ihre Probleme eigentlich eine Lösung gäbe.

Eine vorbereitete Tat

Im Fall von Küsnacht deuten die Zeichen auf eine Überforderung hin. Auf einer Kommode finden die Ermittler einen Abschiedsbrief, verfasst von der Frau, adressiert an ihre Töchter. Die Aufschrift: «Im Jahr 2019».

In einer roten Sichtmappe entdecken sie weitere Dokumente: zwei Couverts mit Handnotizen, eine Broschüre mit dem Titel «Von einem Todesfall betroffen», Zeitungsartikel über das Thema Suizid – und eine Todesanzeige, ausgeschnitten.

Die Todesanzeige stammt von den Angehörigen eines Ehepaars, das im Januar 2018 gestorben war. Der Fall wurde von diversen Medien aufgegriffen: Ein 83-jähriger Mann erschoss seine gleichaltrige Frau im Spital von Affoltern am Albis. Sie war dort Patientin, ihr Ehemann hatte im Krankenhaus ein Gästebett.

In der Todesanzeige erläuterte die Familie die Beweggründe, die zu dieser Tat geführt hatten. Die zunehmenden Altersbeschwerden des Ehepaars hätten die Möglichkeit immer weiter eingeschränkt, am Leben von Familie und Freunden sowie am Weltgeschehen teilzunehmen. Eine krankheitsbedingte Trennung, die offenbar bevorstand, hätten beide nicht verkraftet. «Sie sind ihren Weg stets tatkräftig gemeinsam gegangen», hiess es weiter, «und sie wollten auch im Tode vereint sein.»

Krankheit als Motiv, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden.

Im Fall von Küsnacht ist das anders. Die Tochter gibt den Ermittlern zu Protokoll, ihre Eltern seien «gut zwäg» gewesen. Die beiden hätten eine schöne Beziehung geführt, hätten viel miteinander geredet, seien viel gereist.

Das bestätigt auch die Enkelin gegenüber der Polizei. Ihre Grosseltern seien sehr klar im Kopf gewesen. Der Grossvater habe nie Suizidabsichten geäussert. Die Grossmutter habe zwar einige Altersbeschwerden gehabt, sei aber noch Auto gefahren.

Etwas anders beschreibt die andere Tochter die Situation: Zwar seien beide für ihr Alter topfit gewesen. Doch die Mutter habe sich mehrfach über das Älterwerden beklagt. Sie denke, dass die 82-Jährige an einer leichten Altersdepression gelitten habe. Sie habe immer gesagt, dass sie nicht so wie die Leute im Altersheim enden wolle.

Ein Tabuthema

Albert Wettstein kennt diese Sorgen. Er war 28 Jahre lang Chefarzt beim Stadtärztlichen Dienst Zürichs. Seit seiner Pensionierung 2011 ist er ehrenamtlich bei der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) tätig. Er sagt: «Dass jemand zur Tötung des Partners schreitet, ist nur die Spitze des Eisbergs.» Viel öfter komme es bei Senioren zu Schlägen, Beschimpfungen und Tätlichkeiten.

Hinter dem Phänomen stecke vor allem eines: massive Überforderung. «Wenn jemand plötzlich seine demente Mutter oder seinen schwerkranken Partner pflegen muss, ist das sehr belastend.» In der Schweiz werde noch immer erwartet, dass sich Familienangehörige um ihre Nächsten kümmerten, erklärt Wettstein. «Die Betroffenen glauben, sie müssten es alleine schaffen.»

Viele werden in diese Situation hineingeworfen, ohne Ausbildung, ohne Vorkenntnisse in der Altenpflege. Entsprechend überfordert sind sie. Wettstein sagt: «Gewalt ist meistens eine Form dieser Überforderung.»

Und sie ist gar nicht so selten: Gemäss einer Studie der Weltgesundheitsorganisation ist in Europa jede fünfte Person über 65 Jahre von Gewalt oder Misshandlungen betroffen. In der Schweiz wären das mehr als 300 000 ältere Menschen. Experten gehen davon aus, dass rund 95 Prozent der Fälle gar nicht erst gemeldet werden – weder der Polizei noch Fachstellen.

Albert Wettstein sagt: «Es ist ein grosses Tabuthema. Dabei wäre es so wichtig, dass betroffene Menschen sich Hilfe holen.»

Kein anderer Ausweg?

Dies wäre auch Ende August 2019 nötig gewesen. Bei der Zürcher Stadtpolizei geht damals ein Notruf ein. Ein 85-jähriger Mann meldet sich und sagt, dass seine Lebenspartnerin tot sei. Auch er werde nun gehen.

Sofort rücken Einsatzkräfte zu seiner Wohnung aus. Doch als sie eintreffen, ist es zu spät. Sie finden das Paar tot auf einem Stuhl, vor dem laufenden Fernseher, erschossen. Auf dem Tisch entdecken die Ermittler einen Abschiedsbrief. Er wurde mit dem Computer verfasst und fünffach kopiert – für die nächsten Angehörigen.

Der Mann schreibt darin, er sei schwer krank und müsse ins Spital. Die Obduktion zeigt später, dass er an Krebs im Endstadium litt.

Der Mann erklärt laut Einstellungsverfügung, niemand könne sich mehr um seine Lebenspartnerin kümmern. Deshalb sehe er keinen anderen Ausweg.

Seinen Angehörigen verrät er nichts über seine geplante Tat. Er behält seine Verzweiflung für sich und holt auch keine Hilfe.

Der Mann wusste von nichts

Im Küsnachter Fall deutet ebenfalls nichts darauf hin, dass die 82-Jährige zur Waffe greifen wird. Noch am Tag der Tat telefoniert sie mit der Enkelin.

Dieser fällt ein, dass sich ihre Grossmutter – anders als üblich – nicht über ihren Gesundheitszustand beklagt hat. Sie sagte, es gehe ihr gut. Und merkte sogar noch an, dass man sich ja am folgenden Abend sehen werde, wenn die Enkelin und ihr Mann sie besuchten, zum Abendessen.

Gut drei Stunden nach diesem Telefonat nimmt die betagte Sportschützin eine Pistole der Marke Walther TPH zur Hand und geht damit ins Schlafzimmer des Mannes. Der 90-Jährige liegt dort auf dem Bett und macht eine Mittagspause. Die Frau schiesst ihm in den Kopf. Gemäss Ermittlungsakten ist sie der Meinung, dass sie ihren Ehemann so getötet hat. Danach richtet sie die Waffe gegen sich und fällt zu Boden.

Die Dokumente, welche die Frau in der roten Sichtmappe bereitlegte, sollten gemäss Untersuchung suggerieren, dass die Tat einem gemeinsamen Entschluss entsprungen sei. Doch ihr Ehemann hatte nicht die Absicht, aus dem Leben zu scheiden. Das zeigt eine Einvernahme gut zwei Wochen nach der Tat.

Ermittler besuchen den Witwer im Spital. Er sagt ihnen, er wisse nicht, weshalb seine Frau sich getötet habe. Weder habe sie an einer schweren Krankheit gelitten, noch sei dies bei ihm der Fall. Sie hätten auch nicht über einen gemeinsamen Tod gesprochen.

Dass seine Frau Mitglied in einem Schiessverein gewesen sei und sie eine alte Militärpistole von ihrem Vater besessen habe, das sei ihm bekannt gewesen. Aber dass sie noch weitere Schusswaffen besass – die Walther TPH und zwei Revolver –, wusste er nicht.

Der Mann muss fortan mit dem grossen Rätsel leben, warum seine Frau an jenem Montag zur Tat schritt. Auch muss er mit den Folgen seiner Verletzung weiterleben: Sein Kopf sei wie zweigeteilt, sagt er den Ermittlern. Rechts sehe und höre er alles, wohingegen er links nichts mehr sehe und nichts mehr höre.

Es muss nicht so enden

Die Geschichten in Küsnacht, Knonau oder Zürich haben tragisch geendet. Albert Wettstein betont, es müsse nie so weit kommen. «Es gibt genügend Angebote für ältere Menschen, die sich in einer Not befinden.» Man könne sich an Pro Senectute oder die UBA wenden. Er und seine Kolleginnen und Kollegen würden dann versuchen, Lösungen für die Probleme zu finden. «Es ist ein gesellschaftliches Gebot, dass wir alle genau hinschauen.»

Was das bewirken kann, beschreibt Wettstein mit einem Beispiel: Ein hochrangiger Manager eines Grossunternehmens ging in Pension. Er liess sich alles auszahlen. Er kaufte sich ein Haus in der Heimat seiner Ehefrau. Das Paar lebte fortan in beiden Ländern.

Doch dann erkrankte seine Partnerin an Demenz. Ihr Zustand verschlechterte sich immer weiter. Irgendwann sprach sie nur noch ein paar wenige Sätze.

Die Krankheit, die teuren Wohnungen, der hohe Lebensstandard: All das wurde irgendwann zu viel. Das Geld reichte nicht mehr aus. Der pensionierte Manager stellte einen Antrag auf Ergänzungsleistungen. Doch die Zürcher Wohngemeinde lehnte ab. Er müsse Sozialhilfe beantragen, hiess es.

Das wollte der Mann aber nicht. Also fasste er den Entschluss, sich und seiner Frau das Leben zu nehmen. Angehörige des Ehepaars meldeten sich bei der Unabhängigen Beschwerdestelle und schilderten die Pläne des Mannes. Daraufhin besuchte Albert Wettstein das Paar. «Ich merkte, dass der Mann seine Frau zwar gut pflegte. Doch die schwere Demenz machte ihm zusehends zu schaffen.»

Wettstein zeigte dem verzweifelten Mann schliesslich einen anderen Ausweg. Er fand ein Pflegeheim für ihn und seine demente Ehefrau. Dort leben beide noch immer, Tür an Tür, in zwei separaten Zimmern.

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