Donnerstag, Oktober 3

Die wirtschaftliche Lage Chinas ist dramatischer als bisher öffentlich eingestanden. Jetzt will Peking mit einem massiven Konjunkturpaket gegensteuern. Die Börsen reagieren euphorisch, doch ein Erfolg ist nicht garantiert.

Unter China-Experten fragt man sich regelmässig, ob der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping von seinem Umfeld noch alle Informationen erhält, um die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen. Manche Beobachter vermuten, schlechte Nachrichten würden den Alleinherrscher nicht mehr erreichen.

Jetzt zeigt sich, dass zumindest die Informationen zur Lage der Wirtschaft zu Chinas starkem Mann durchgedrungen sein müssen. Denn Anfang der Woche wandte sich Xi an sein Volk, auch, um dieses auf das Schlimmste vorzubereiten.

«Wir müssen mit Blick auf mögliche Gefahren aufmerksam sein und uns auf Regentage vorbereiten», sagte Xi in seiner Rede zum 75. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik. «Die Strasse vor uns wird nicht eben sein», fügte der Präsident hinzu, «es wird Hindernisse und Schwierigkeiten geben, sogar Herausforderungen wie Sturzfluten und Stürme.»

Viel besser kann man die gegenwärtige Situation in China nicht beschreiben. Zwar wuchs die chinesische Wirtschaft gemäss offiziellen Angaben zwischen April und Juni noch um 4,7 Prozent. Doch anekdotische Evidenz, Nachrichten aus den Provinzen und Städten sowie Streifzüge durch die chinesische Hauptstadt vermitteln ein anderes und vor allen Dingen dramatisches Bild.

Firmenpleiten, Restaurantschliessungen, Gehaltskürzungen

In Peking schliessen derzeit reihenweise Restaurants und Läden, weil sie ihre Kosten nicht mehr decken können. Dank der nicht enden wollenden Immobilienkrise schlittern immer mehr Bauunternehmen in die Pleite. Und in vielen Städten und Provinzen kürzen Behörden ihren Mitarbeitern die Saläre oder streichen sie gleich ganz.

Aus lauter Verzweiflung greifen manche der hochverschuldeten Stadtverwaltungen offenbar zu mehr als fragwürdigen Mitteln. Momentan machen Berichte die Runde, laut denen Städte lokale Unternehmer festnehmen lassen und erst gegen die Zahlung eines Lösegelds wieder auf freien Fuss setzen.

Zinsen gesenkt

Pekings Machthaber sind in höchster Alarmbereitschaft. Zunächst kündigte die Zentralbank am Dienstag vergangener Woche eine Reihe geldpolitischer Massnahmen an, um die abstürzende Konjunktur zu stabilisieren.

So senkten Chinas Geldhüter einen wichtigen Leitzins sowie den Zinssatz für laufende Immobiliendarlehen, setzten die Mindestreservesätze für Banken herunter und gaben Mittel frei, um die Geschäftsbanken und Börsen zu stabilisieren.

Zwei Tage später rief Xi das Politbüro zu einer Sitzung zusammen. Normalerweise diskutiert das Spitzengremium an seiner September-Sitzung keine Wirtschaftsthemen. Diesmal war es anders, was den Ernst der Lage unterstreicht.

Details sind noch nicht bekannt. Doch die Mitglieder des Politbüros beschlossen offenbar ein breit angelegtes Konjunkturprogramm. «Wir müssen uns den Schwierigkeiten der Wirtschaft direkt stellen», heisst es in dem Protokoll, und «entschlossen handeln». Ausserdem unterstrich das Politbüro die Notwendigkeit «einer antizyklischen Fiskalpolitik.»

Peking fährt die Bazooka auf

Viele Analysten sehen in den klaren Formulierungen des Politbüros eine Abkehr von den vorsichtigen Stimulus-Massnahmen der vergangenen zwei Jahre. «Peking scheint entschlossen, die Bazooka in rascher Abfolge aufzufahren», schreibt etwa Lu Ting, China-Analystin bei Nomura in Hongkong.

Kurz nach der Dringlichkeitssitzung des Politbüros berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, Peking plane ein Konjunkturpaket mit einem Umfang von umgerechnet mehr als 280 Milliarden Dollar. Mit Teilen des Pakets wolle Peking den darniederliegenden Konsum wieder in Schwung bringen. So wollen die Behörden offenbar Familien mit mehr als einem Kind mit monatlich rund 110 Dollar unterstützen.

Dass Xi solche Massnahmen mitträgt, zeigt, wie gross die Probleme sind. Denn eigentlich sind Chinas starkem Mann derartige Geschenke zuwider. Dadurch würden die Menschen träge und faul und verlören ihren Kampf-Instinkt, glaubt er.

Hilfen für Lokalregierungen

Ausserdem plant die Zentralregierung, den lokalen Verwaltungen bei der Bewältigung ihrer Schuldenprobleme zu helfen; andere Teile des Pakets sollen in Investitionen fliessen.

Peking scheint darüber hinaus entschlossen, den Immobiliensektor zu stabilisieren. So hiess es an der Politbüro-Sitzung, die Behörden würden Neubauten von Wohnungen und Häusern fortan strikt begrenzen. Ausserdem wiederholte Chinas Führung ihren Aufruf, die Banken sollten sinnvolle Bauvorhaben von Immobilienentwicklern mit Krediten unterstützen. «Der Absturz muss gestoppt werden und Stabilität zurückkehren», heisst es im Protokoll der Politbüro-Sitzung.

Die Anleger reagierten auf die Ankündigungen aus Peking begeistert. Am Montag, dem letzten Handelstag vor den Ferien zum Nationalfeiertag, legte der Leitindex der Börse Schanghai um mehr als 8 Prozent zu. Der Hang-Seng-Index der Börse Hongkong kletterte am Donnerstag, dem ersten Tag nach dem Feiertag in Hongkong, erneut um mehr als 6 Prozent.

Offenbar glauben die Investoren, dass die chinesische Regierung fest entschlossen ist, die Wirtschaft – getreu der Devise von Mario Draghi: «Whatever it takes» – zurück auf den Wachstumspfad zu führen.

Viele Fragen bleiben offen

Doch momentan bleiben noch viele Fragen offen. So bleibt abzuwarten, in welche Investitionsprojekte die staatlichen Gelder fliessen sollen. Baut China, ähnlich wie 2009, erneut Strassen, Brücken und Bahnhöfe, von denen es ohnehin schon reichlich gibt, entfacht es nicht mehr als ein Strohfeuer.

Viele Analysten glauben überdies, dass die bisher angekündigten Massnahmen nicht ausreichen, um das Ruder dauerhaft herumzureissen. Peking muss noch einmal nachlegen.

Die geldpolitischen Massnahmen dürften zudem nur überschaubare Wirkungen entfalten. Schon in der Vergangenheit verschmähten Unternehmer und private Haushalte Kredite. Denn Chinas Wirtschaftskrise ist vor allem eines: eine Vertrauenskrise.

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