Montag, September 16

Im Schatten mächtiger Berge braucht vieles mehr Zeit als anderswo. Hochtechnologie und Hektik sind Kirgistan weitgehend fremd. Adlerjäger gehören zur Tradition in dem zentralasiatischen Land. Aber auch hier ändern sich die Zeiten.

Ein Schatten, mehr nicht, der sich von einem Hügel auf die Beute stürzt. Ein paar Flügelschläge, ein Sturzflug, mehr ist im Gegenlicht nicht zu sehen. Schon hängt die Beute zwischen den Krallen des Jägers. Wegrennen ist zwecklos, nur wenige Meter weit hat es unser Begleiter geschafft mit dem Balg, der Beute-Attrappe an einer Leine. Jetzt klebt das Kissen aus einem Schakalfell zwischen den Krallen des Steinadlers. Was wir auch anstellen, um es ihm abzujagen, der Raubvogel lässt nicht locker.

«Der Steinadler sieht in einem Radius von zwei Kilometern jede Bewegung», sagt sein Besitzer Kadyrdin. «Und er beschleunigt im Flug rasant.» Laut einschlägigen Werken auf bis zu 125 Kilometer pro Stunde. «Das macht ihn zu einem so grossartigen Jäger», sagt Kadyrdin. Der Steinadler kann sich in der Luft auf den Rücken drehen und sogar im Flug von unten angreifen. König der Lüfte wird er deshalb auch genannt. Seine Beute packt er am Nacken und tötet sie mit seinen Klauen innert Sekunden: Hasen, Füchse, Rehe – selbst mit Wölfen nimmt er es auf.

Doch halt, es ist höchste Zeit zu präzisieren: Es ist eine Sie, die es mit jedem in der Bergwelt aufnimmt. Die besten Jäger sind bei den Steinadlern nicht die Männchen, sondern die grösseren und stärkeren Weibchen: Sie werden gegen 90 Zentimeter gross und gut 6 Kilogramm schwer – und die Spannweite ihrer Flügel erreicht bis zu 2,30 Meter. Seit Menschengedenken werden die Weibchen deshalb für die Jagd abgerichtet. Syrgak heisst die Jägerin in unserem Fall. «Ihr Griff ist fünfzehn Mal so stark wie der eines Ringers», sagt Kadyrdin. Die Beute-Attrappe aus Schakalfell lässt sie erst los, als ihr Meister ihr eine Schafslunge zu fressen gibt. Zur Belohnung. Den Schnabel reinigt und schleift sie danach an einem kleinen Stein, den er ihr dafür hinhält. Die Präsentation endet damit, dass er ihr eine Haube überstülpt. Nun sieht sie gar nichts mehr, ihr Jagdinstinkt ist damit eingedämmt.

Eine unendliche Geschichte

Regungslos sitzt Syrgak auf dem ledernen Handschuh ihres Meisters Kadyrdin. Man könnte die Adlerdame für ein Statue halten, würde der steife Wind nicht ihr Federkleid bewegen. Ein Monument der kirgisischen Kultur, die sich auf das Nomadentum beruft, wie Kadyrdin erklärt. Und auf das Nationalepos «Manas», das zwanzig Mal so lang ist wie Homers «Odyssee» und «Ilias» zusammen. Es ist eine archaische Welt, die dieses Epos in fast einer halben Million Versen beschwört. Es besingt die nicht enden wollenden Kämpfe des mythischen Helden Manas und seiner vierzig Gefährten gegen andere zentralasiatische Stämme und Völker um Vieh, Weideland und ums Überleben in der harschen Natur.

Über viele Generationen und Jahrhunderte wurde die Heldensaga von Volkssängern, Manastschis, in melodischem Sprechgesang, begleitet von einer dreisaitigen Laute, mündlich überliefert und ausgeschmückt. So entstand eine schier unendliche Geschichte, die gleichsam eine Enzyklopädie des kirgisischen Lebens ist. Erst in den 1920er Jahren hielt der Manastschi Sagymbai Orozbakow das ausufernde Monumentalwerk schriftlich fest. Und als Kirgistan nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 die Unabhängigkeit erlangte, machte sich der Nationalstolz an der unsterblichen Ballade, nicht am sterblichen Helden darin fest. Die Unesco hat das «Manas»-Epos inzwischen als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt. Rezitals von ein paar zehntausend Versen bilden bis heute den Höhepunkt kirgisischer Volksfeste.

Die Kirgisinnen und Kirgisen sind keine Nomaden mehr, dafür hat Stalin mit seiner Terrorherrschaft gesorgt. Die Zeit, sie ist auch in Kirgistan nicht stehengeblieben. Die Jurten haben ausser auf den sommerlichen Weiden hoch oben in den Bergen ausgedient. Aber die Herden von Schafen, Pferden, Rindern oder Yaks sind nicht eingezäunt, sondern werden von Hirten auf kleinen Pferden – Cowboys – über das karge Land getrieben.

Die traditionellen hohen Filzhüte der Männer, Kalpak genannt, und die Wickeltürme verheirateter Frauen namens Elechek, die bis zu 35 Meter Gaze umfassen, zeigen die Seniorität an. Die Nationalgetränke sind aus fermentierter Stutenmilch und vergorenen Getreiden hergestellt. Und auf den Tisch kommen getrocknete Joghurtbällchen (Kurut) und Fladenbrote, klare Suppen mit Kartoffeln oder Nudeln, gebratener Reis mit kleinen Fleischstücken (Plow) und zu besonderen Gelegenheiten ein frisch geschlachtetes Schaf, Pferd oder Rind, wobei das Fleisch der Stellung entsprechend verteilt wird – ältere Gäste erhalten die besten Stücke, danach sind Vater, Mutter, der älteste Sohn, seine Frau, die jüngeren Gäste und Familienmitglieder an der Reihe.

Die rasenden Entwicklungen finden anderswo statt. Kirgistan liegt in einem der mächtigsten Gebirge der Welt, da ist nur schon die Fortbewegung aufwendig. Tianshan, himmlisches Gebirge, heisst das Bergmassiv, das sich von China aus 2450 Kilometer weit quer durch Zentralasien zieht, flankiert von Wüsten und Steppen. Die alte Seidenstrasse führte an der Südflanke der Berge entlang, deren höchster Gipfel 7440 Meter weit in den Himmel ragt. Gott Tengri, der Schöpfer der Welt, lebt dem Volksglauben nach auf jener pyramidenförmigen Spitze, welche die Grenze zwischen China, Kasachstan und Kirgistan markiert. Darauf haben sich die drei Staaten 1999 verständigt. Bei schönem Wetter taucht die untergehende Sonne die vereiste Spitze jeweils in blutrotes Licht.

Eine Wand aus Schnee und Eis

Das himmlische Gebirge ist laut Geologen relativ spät in der Erdgeschichte entstanden. Die hohen Berge bildeten einst eine vulkanische Inselkette wie das heutige Indonesien, ehe vor etwa 300 Millionen Jahren eine vom australischen Kontinent abgebrochene Erdplatte auf die eurasische Kontinentalplatte prallte und die Erde mit ungeheurer Wucht aufschob zu einer Reihe von Bergketten, eine hinter der anderen. Wie in einem chinesischen Tuschebild verlieren sie sich in matten Grautönen am Horizont. Gletscher bedecken in diesem Gebirge eine Fläche, so gross wie ein Drittel der Schweiz. Und in eine Falte eingebettet liegt der Issyk-Kul, ein gigantischer Gebirgssee, der fast zwölfmal so gross ist wie der Bodensee und in den zahlreiche Flüsse hineinfliessen und keiner heraus. Heisser See bedeutet dieses Naturwunder, das nicht einmal im tiefsten Winter zufriert, übersetzt.

Doch jetzt ist es warm und trocken. Staubwolken liegen über dem Südufer. Eine Schnellstrasse wird gebaut von der Hauptstadt Bischkek bis fast zum Dreiländereck im Osten des Landes, wo die mächtigen Berge eine schier unüberwindbare Wand aus Schnee und Eis bilden. Nach Xinjiang auf der anderen Gebirgsseite, der Heimat der Uiguren in China, gibt es nur im Süden Kirgistans einen Grenzübergang auf 3752 Meter über Meer. Aber zurück zur Schnellstrasse entlang des Issyk-Kul – sie gehört, auch wenn sie nicht in die Volksrepublik führt, zur neuen Seidenstrasse und wird mit einem chinesischen Kredit finanziert. In zwei, drei Jahren soll sie fertig sein, dem Tourismus einen Schub verleihen und die abgelegene Region verwandeln.

Unweit der Grossbaustelle am Seeufer liegt Bokonbaewo, Marktflecken und Verwaltungssitz eines Bezirks, wo die Jagd mit Adlern seit alters gepflegt wird von Ende Oktober bis Ende Februar, wenn Schnee die Aprikosenbäume, Viehweiden und Kartoffeläcker bedeckt. Unter den Vordächern der Häuser im Umland türmen sich die getrockneten Kuhfladen zum Heizen. Auch Kadyrdin ist Bauer, aber sein Leben dreht sich um den Golden Eagle, wie der Steinadler wegen der ockerfarbenen Federn im Genick auf Englisch heisst. Der Mittfünfziger ist Adlerjäger in vierter Generation, wie er stolz erzählt. Das Weidwerk hat er von Kindsbeinen an gelernt. Teile seiner Ausrüstung, wie etwa die Lederhaube auf Syrgaks Kopf, hat sein Grossvater angefertigt.

Eine enge Beziehung

Auch gut abgerichtete, wendige Windhunde, die die Beute aufscheuchen, gehören zur Jagd dazu. Die in Kirgistan verbreitete Rasse Taigan gilt als ausgesprochen zäh, furchtlos und aggressiv. Woher der Name stammt, ist nicht klar. Nicht einmal den Kirgisen selbst. Die einen halten ihn für den Befehl «auf und töten», andere sehen darin die Bedeutung «gleiten». Die Assoziationen erschliessen sich, als Kadyrdin seine beiden zotteligen Jagdhunde von der Leine lässt. Wie der Blitz beschleunigen sie mit ihren langen Beinen auf bis zu 70 Kilometer pro Stunde. Fast lautlos setzen sie der Beute-Attrappe nach.

Es gebe nur noch wenige Adlerjäger, wie er einer sei, sagt Kadyrdin, vielleicht fünfzig in Kirgistan. Die meisten setzten die abgerichteten Steinadler aber nur noch zur Schau ein, sagt er, ohne eine Miene zu verziehen. Zwar ist auch er zur Demonstration in einem zerbeulten Kleinwagen gekommen, nicht auf einem kleinen Pferd wie zur Jagd. Trotzdem ist klar, was er von der Vermarktung hält. Die Adler sind seine Leidenschaft, drei hat er – und mit ihnen verbringt er mehr Zeit als mit seiner Frau.

Das Weibchen Syrgak war noch jung, ungefähr zwei Jahre alt, als er sie aus einem Horst stahl. «Ich nahm danach die Elternrolle ein und brachte ihr das Jagen bei», sagt Kadyrdin. Mindestens zwei, drei Stunden täglich habe er dem Adlerweibchen gewidmet. «Ich sprach und sang viel zu ihr, damit sie lernte, ausschliesslich auf meine Stimme zu hören.» Tagsüber trug sie – ausser im eigentlichen Jagdtraining – stets eine Haube, damit ihre Sinne nicht überreizt wurden. Und nur er fütterte sie. So formte er die Adlerfrau innert drei, vier Jahren zu seiner Jagdgefährtin.

«Natürlich ist es auch möglich, einen ausgewachsenen Adler mit dem Netz einzufangen», sagt Kadyrdin. Dann sei die Herausforderung jedoch eine andere: «Jagen kann ein solcher Raubvogel ja schon, aber ihn zum Gehorchen zu bringen, ist viel schwieriger.»

Inzwischen ist Syrgak 16 Jahre alt, im besten Fall wird sie doppelt so alt. Die Tradition verlangt, dass er sie spätestens jetzt freilässt, damit sie sich fortpflanzt. Der natürliche Zyklus, er soll erhalten bleiben. Doch Kadyrdin sagt: «Ich kann noch nicht loslassen. «Ich bin noch nicht so weit.»

Er macht sich zum Aufbrechen bereit. Die beiden Jagdhunde bringt er im Kofferraum seines grünen VW Polo unter. Eine Rostlaube, das Auto ist in Europa wahrscheinlich schon vor langer Zeit ausgemustert worden. In Kirgistan hat es sein drittes oder viertes Leben erhalten. Selbst die Türgriffe fehlen. Wie Kadyrdin alles verstaut hat, es ist uns entgangen. Doch ein Bild ist unvergesslich: Wie er im klapprigen Auto über die Steppe davonholpert, sitzt die Adlerfrau auf dem Beifahrersitz. Offenbar bequem, völlig regungslos.

Gut zu wissen

Anreise: Istanbul empfiehlt sich als Drehscheibe. Turkish Airlines fliegt Bischkek und andere zentralasiatische Hauptstädte mehrmals täglich an.

Beste Reisezeit: Juni bis September.

Reiseplanung: Kirgistan lässt sich gut mit einem Nachbarland, Usbekistan oder Kasachstan, kombinieren. Diverse Reisebüros bieten entsprechende Pakete an. Aber Achtung: Die Fortbewegung in den Bergen benötigt viel Zeit. Manche Programme sind so überfrachtet, dass die meiste Zeit wohl auf den Strassen verbracht wird. Wer etwas mutiger ist, kann ein individuelles Programm – ob grenzübergreifend oder inklusive Trekking – mit lokalen Anbietern wie Trevelor oder Kyrgyz Concept zusammenstellen.

Essen: Die kirgisische Küche ist eintönig. Eine mitgebrachte Flasche Chilisauce hilft. Ein Highlight ist Ashliamfu, ein Nudelgericht, das von der uigurischen Minderheit stammt.

Trinken: Wasser aus der Flasche – und Schwarztee. Die Nationalgetränke Shalap (Sauermilch) und Kumys (vergorene, leicht alkohohlhaltige Stutenmilch) sind jedoch einen Versuch wert.

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