Mittwoch, September 3

Als der amerikanische Botschafter Frankreich vorwarf, zu wenig gegen Judenhass zu tun, erntete er Unverständnis. Doch Warnungen sind berechtigt, wie auch ein neues Buch zeigt.

Fast eine Stunde lang wird die junge Frau in einer verlassenen Lagerhalle misshandelt. Ihr Ex-Freund beschimpft sie als «dreckige Jüdin», ohrfeigt sie, wirft sie zu Boden und reisst sie an den Haaren. Seine beiden dreizehnjährigen Kollegen vergewaltigen die Zwölfjährige mehrmals – und filmen die Szenen.

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Es ist eine politisch und rassistisch motivierte Racheaktion. Der Ex-Freund des Opfers, zur Tatzeit gerade einmal zwölf Jahre alt und zum Islam konvertiert, fühlt sich in seiner Ehre verletzt, weil ihm das Mädchen seine jüdische Identität verschwiegen hat. Aus Angst vor Mobbing in der Schule hatte es erzählt, es sei muslimisch.

«Er hat die Vorstellung nicht ertragen, dass sie jüdisch ist», wird die Anwältin des Mädchens später während des Gerichtsprozesses sagen. «Als er es erfahren hat, hat sich sein ganzer Hass an ihr entladen. Er hat ihr auch vorgeworfen, gegen Palästina zu sein und Israel zu unterstützen.»

Angreifer wollte «einen Juden töten»

Die Gruppenvergewaltigung von Courbevoie hat Frankreich im Juni 2024 erschüttert. Allerdings nur kurz. Es gab einige Proteste gegen Judenhass, Staatspräsident Emmanuel Macron forderte die Schulen auf, über Antisemitismus und Rassismus zu reden. Dabei ging es um einen Fall, der symptomatisch ist für die Dezivilisierung der französischen Gesellschaft und die zunehmende Bedrohung der jüdischen Minderheit.

Die Regierung Macron versichert zwar, sie unternehme alles, um die Juden zu schützen, und auf Kritik reagiert sie beleidigt. So geschehen, als der amerikanische Botschafter in Frankreich, Charles Kushner, der Regierung Untätigkeit vorwarf. Aber die Politik wirkt bei allen Beschwörungen, wonach die «vereinte Nation» gegen Antisemitismus kämpft (Macron), zunehmend hilflos.

Gemäss einer Statistik des französischen Innenministeriums ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle seit dem Massaker des 7. Oktober regelrecht explodiert. Sie stieg von jährlich rund 500 auf 1676 im Jahr 2023. Letztes Jahr waren es 1570. Eine Trendumkehr ist trotz leicht sinkenden Zahlen nicht zu beobachten. Die Täter schlagen überall zu, mit Schmierereien, Drohungen, Fäusten und Brandsätzen. Im Mai 2024 versucht ein illegal Eingewanderter aus Algerien, die Synagoge von Rouen mit einem Molotowcocktail in Brand zu setzen – und geht, mit einem Messer und einer Eisenstange bewaffnet, auf Polizisten und Feuerwehrleute los.

Drei Monate später zündet ein Algerier die Synagoge von La Grande-Motte an. Er trägt eine Palästinenserflagge. Im letzten Juni greift ein in Deutschland geduldeter Palästinenser einen Rabbiner in einem Café von Neuilly-sur-Seine an und verletzt ihn am Kopf. Am 29. August bedroht ein Mann im selben Pariser Vorort mehrere Personen vor der Synagoge mit einem Messer und beschimpft sie. Nach der Verhaftung sagt er, er habe einen Juden töten wollen.

100 000 sollen das Land bereits verlassen haben

Der Terror ist derart alltäglich, dass offenbar viele Juden an Auswanderung denken. Einige stellen gar die Frage, ob es in einigen Jahrzehnten noch jüdische Franzosen geben werde. Die Autoren Dov Maïmon und Didier Long haben dazu ein Buch geschrieben mit dem Titel «La Fin des Juifs de France?» (Das Ende der Juden Frankreichs?). Ihr Befund ist beunruhigend: Rund 150 000 Juden seien bedroht, vor allem in sozialen Brennpunkten. «Die Gefahr ist sehr nahe», schreiben sie, «und wir raten den Juden, sich vorzubereiten.»

Dov Maïmon ist israelischer Islamwissenschafter und Didier Long ein ehemaliger französischer Mönch und Theologe, der auf Korsika seine jüdischen Wurzeln entdeckt hat. Die beiden haben eine klare Haltung, und ihre Schlüsse mögen alarmistisch wirken. Ihre Aussagen sind jedoch fundiert, nach eigenen Angaben haben sie mit zahlreichen jüdischen Gemeindevertretern, Politikern und Imamen gesprochen. Zudem zitieren sie Umfragen, Statistiken und Geheimdienstberichte.

Die heutige Zahl der Juden in Frankreich schätzen Maïmon und Long auf 440 000. Genaue Zahlen gibt es nicht, da der französische Staat Erhebungen über die Religion aufgrund von Erfahrungen während der Nazi-Besetzung verbietet. Seit 2000, so schreiben die Autoren, hätten 80 000 bis 100 000 Juden Frankreich verlassen, die meisten Richtung Israel, Kanada und Portugal. Mit dem 7. Oktober sei die Zahl der Auswanderungsgesuche massiv angestiegen.

Die jüdische Bevölkerung von Toulouse, einer Hochburg von Islamisten, hat sich laut Maïmon und Long seit 2010 halbiert, auf 10 000. Der Hauptgrund für diesen Exodus ist für sie klar: die Unsicherheit.

Jugendliche, die mit Dealern und Pseudo-Imamen aufwachsen

So hat gemäss Umfragen, welche die Autoren zitieren, jeder vierte Jude in Frankreich schon physische Angriffe erlebt. 68 Prozent aller rassistischen Angriffe im Land richten sich laut Geheimdienstquellen gegen Juden. Die Gefahr, Opfer einer Attacke zu werden, ist für jüdische Franzosen 72-mal höher als für Muslime. Seit 2005 sind in Frankreich elf Kinder, Frauen und Männer ermordet worden. Ganz einfach, weil sie Juden sind.

Unter ihnen war der Geschäftsmann Ilan Halimi, der von einer Bande entführt und gefoltert wurde, da Juden angeblich immer Geld haben. Oder die Kinder Arié Sandler, Gabriel Sandler und Myriam Monsonégo, die ein Islamist 2012 in Toulouse vor einer jüdischen Schule erschoss.

Die Mörder waren in den meisten Fällen Muslime. Als Hauptursache für die antisemitische Gewalt identifizieren Maïmon und Long denn auch den politischen Islam und die Agitation von Islamisten in Quartieren, in denen Jugendliche «mit Drogenhändlern und Pseudo-Imamen» aufwüchsen – und deshalb kaum «republikanische Brüderlichkeit» vermittelt bekämen.

Tatsächlich ist die Gewalt gegen Juden in Frankreich spätestens seit den 1990er Jahren ein Phänomen, das massgeblich mit schlecht integrierten Migranten zusammenhängt. Lehrer berichteten schon vor 25 Jahren von Mobbing in den Schulen, etwa im Buch «Les Territoires perdus de la République». Die Zahl der antisemitischen Vorfälle erreichte während der zweiten Intifada im Jahr 2000 einen ersten Höhepunkt. Schon damals wurde selbst jüdischen Kindern vorgeworfen, für Israels Politik verantwortlich zu sein.

Seither sind nochmals Hunderttausende Migranten aus Nordafrika, Afghanistan und dem arabischen Raum nach Frankreich eingewandert, die häufig antisemitische Vorurteile mitbringen. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Muslime zu, die in Frankreich einen rigorosen Islam praktizieren und sich von der Gesellschaft abgrenzen. Aufgrund der demografischen Entwicklung gehen Dov Maïmon und Didier Long davon aus, dass bis 2050 ein Fünftel bis ein Viertel der französischen Bevölkerung muslimisch sein wird.

Die heutige muslimische Bevölkerung schätzen sie auf 9 Millionen, wobei es auch deutlich mehr sein könnten. Eine Mehrheit der Muslime, das betonen die Autoren, ist säkular, tolerant und republikanisch eingestellt. Aber der gemässigte Islam sei unter Druck. Das bestätigten auch republikanisch eingestellte Imame, die zunehmend von radikalen Predigern aus dem Ausland konkurrenziert würden.

Die Hinwendung zum Radikalismus zeigt sich unter anderem in Umfragen, welche die Autoren zitieren. Demnach lehnen 28 Prozent der befragten Muslime demokratische Werte ab, wobei die Intoleranz bei den Jüngeren zunimmt. Über die Hälfte glaubt, die Juden würden die Medien, die Finanzen und die Wirtschaft kontrollieren. Maïmon und Long erinnern zudem daran, dass in Frankreich rund 5100 «fichés S» leben, also Leute, die vom Geheimdienst als gefährlich eingestuft werden. Oder dass in den letzten Jahren Hunderte Straftäter aus dem Gefängnis entlassen worden sind, die wegen islamistischer Gewalt einsassen.

Le Pen und Mélenchon brauchen die Juden – für ihre Zwecke

Nach Einschätzung der beiden Autoren hängt die gefährliche Lage der Juden auch mit den wirtschaftlichen und politischen Problemen Frankreichs zusammen. Die einst stolze Nation leidet unter explodierenden Staatsschulden, unkontrollierter Migration, Terror und einer politischen Polarisierung, von der linke und rechte Extremisten profitieren.

Die 440 000 Juden Frankreichs, so drücken es Maïmon und Long aus, befänden sich «zwischen Hammer und Amboss»: einem rechten Block und einem links-islamistischen. Der rechte Block ist das Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen, das bei den Präsidentschaftswahlen 2027 gute Chancen hat.

Marine Le Pen gibt sich seit einigen Jahren betont philosemitisch, anders als ihr Vater Jean-Marie, der sich mit SS-Leuten umgab und Gaskammern als Detail der Geschichte bezeichnete. Sie braucht die Juden, um ihre Partei zu entdiabolisieren und ihr damit den Weg frei zu machen in den Élysée-Palast. Gleichwohl lebt in ihrer Partei der traditionelle Judenhass der französischen Rechten weiter. Fast jeder vierte RN-Wähler hat gemäss Umfragen Vorurteile über die Macht der Juden.

Auf der anderen Seite stehen die Islamisten und die Linksaussenpartei La France insoumise (LFI) von Jean-Luc Mélenchon. Die LFI strebt die Führung in der französischen Linken und das Präsidentenamt an. Um das Stimmpotenzial in den arabisch und muslimisch geprägten Quartieren auszuschöpfen, biedern sich ihre Vertreter bei Islamisten und Hamas-Vertretern an. Mélenchon war einst ein säkularer Linker, der über Kopftücher und Leute spottete, die den Gaza-Konflikt nach Paris importieren wollten. Heute inszeniert er sich als Volkstribun der angeblich kollektiv unterdrückten Muslime und der, wie es die LFI-Propaganda behauptet, von einem Genozid bedrohten Palästinenser.

Die Juden braucht er im Wahlkampf genauso wie Le Pen – als Sündenböcke. Deshalb bezeichnete er sie kürzlich als israelische «Diaspora», als wären sie Alliierte Israels auf französischem Boden.

Wenig überraschend ist die LFI unter den jüdischen Wählern zur meistgehassten Partei aufgestiegen. Rechtsextreme wie Éric Zemmour dagegen erzielen in jüdischen Quartieren wie dem «kleinen Jerusalem» in Sarcelles Spitzenresultate. 60 Prozent seiner Leute, so wird im Buch «La Fin des Juifs de France?» ein jüdischer Gemeindepräsident zitiert, seien zur «sehr harten Rechten» übergelaufen.

In ihrem Buch warnen Dov Maïmon und Didier Long vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen, falls Marine Le Pen 2027 die Wahl gewinnt. Die Islamisten und die extreme Linke, so befürchten sie, könnten einen Aufstand in den Banlieues anzetteln – der sich auch gegen die Juden richten würde. Dass diese von einer Rechtsaussenregierung beschützt würden, bezweifeln sie.

Das hört sich dystopisch an, ist aber angesichts der politischen Stimmung im Land nicht völlig abwegig. Brutale Ausschreitungen haben schon mehrmals gezeigt, dass der französische Rechtsstaat in manchen Gebieten kaum noch existiert. Und Verbrechen wie die Gruppenvergewaltigung von Courbevoie verdeutlichen, wie bereits Minderjährige zum Hass erzogen werden.

Die zwei Jugendlichen, die das Mädchen in Courbevoie misshandelt und vergewaltigt haben, sind kürzlich zu Gefängnisstrafen von neun und sieben Jahren verurteilt worden. Der Ex-Freund des Opfers muss fünf Jahre in eine Erziehungsanstalt, wegen Beihilfe zur Vergewaltigung. Das Gericht attestierte ihm «einen tiefen Hass gegenüber dem jüdischen Glauben». Das Mädchen hat nach Aussagen seiner Eltern Albträume – und Angst, allein auszugehen.

Didier Long, Dov Maïmon: La Fin des Juifs de France? Le Cherche midi, Paris. 207 S., € 19.50.

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