Drei Tage nach der Tötung der sieben Helfer wird der Ablauf des Angriffs klarer – und es zeigen sich die Auswirkungen. Diese betreffen neben der israelischen Regierung vor allem die hungernden Menschen in Gaza.
«Auf sie ist systematisch, Auto für Auto, gefeuert worden», sagte der Gründer der Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK), José Andrés, in einer Videobotschaft, die am Donnerstagmorgen veröffentlicht wurde. Drei Tage nachdem eine israelische Drohne Montagnacht sieben Mitarbeiter von Andrés’ Organisation getötet hat, wird der Ablauf des Angriffs klarer. Zugleich bleibt unverständlich, wie es zu dem verhängnisvollen Beschuss kommen konnte.
Was ist über den Vorfall bekannt?
Die Helfer von World Central Kitchen hatten am späten Montagabend etwa 100 Tonnen Nahrungsmittel, die zuvor per Schiff nach Gaza transportiert worden waren, in ein Lager in Deir al-Balah geräumt. Anschliessend fuhren sie von dem Ort in der Mitte des Gazastreifens in drei Fahrzeugen zur Küste. Die israelische Armee war über die Route informiert. Auf dem Dach von mindestens einem der Autos war klar das Logo der Hilfsorganisation zu erkennen.
Israelische Sicherheitsvertreter sagten der Zeitung «Haaretz», zunächst sei ein Auto von einer israelischen Drohne getroffen worden. Die Insassen seien verletzt worden, hätten aber überlebt. Laut amerikanischen und israelischen Medienberichten benachrichtigte der mitreisende Sanitäter die israelische Armee über den Beschuss.
Die Verwundeten wurden daraufhin in eines der anderen Autos gebracht, das kurz darauf ebenfalls angegriffen wurde. Wieder wurden die Verwundeten in ein anderes Auto gebracht, das jedoch ebenfalls beschossen wurde. Die drei Angriffe erfolgten im Abstand von jeweils mehreren hundert Metern. Am Ende waren sechs ausländische und ein palästinensischer Mitarbeiter von World Central Kitchen tot.
Laut dem Generalstabschef der israelischen Armee, Herzi Halevi, wurde der Angriff nicht durchgeführt, um Mitarbeiter von World Central Kitchen zu schaden. «Es war ein Fehler, der aufgrund einer falschen Identifizierung begangen wurde – in der Nacht und unter sehr komplexen Bedingungen», sagte Halevi am Mittwoch. Laut dem britischen Munitionsexperten Chris Cobb-Smith, der mit CNN sprach, deutet das Muster der Angriffe darauf hin, dass Präzisionsmunition aus einer israelischen Drohne verwendet wurde. Es sei schwer zu glauben, dass der tragische Vorfall ein Unfall gewesen sei.
Gemäss Recherchen der Zeitung «Haaretz» beschoss eine israelische Drohne den Konvoi drei Mal, weil angenommen wurde, dass ein bewaffneter Terrorist sich unter den Helfern befand. Dieser hat laut Quellen aus Militärkreisen allerdings nie das Lager verlassen, in dem das WCK-Team die Hilfsgüter eingeladen hat.
Was bedeutet der Vorfall für Israel?
«Das ist ein sehr schwerwiegender Vorfall, etwas, wovor Israel immer Angst hatte, dass es passieren könnte», sagte Eitan Shamir, der Leiter des Begin-Sadat-Zentrums für Strategische Studien in Israel am Mittwoch ausländischen Journalisten. Der internationale Druck auf Israel werde zunehmen – insbesondere jener der USA.
Diese Prognose traf ein. Am Mittwochabend sagte der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin seinem israelischen Amtskollegen Yoav Gallant, der Vorfall bestätige «die bereits vorgebrachten Sorgen über eine mögliche israelische Militäroperation in Rafah». Israel gibt sich entschlossen, die Stadt im Süden Gazas anzugreifen, da es dort vier verbleibende Hamas-Bataillone vermutet. Die USA haben ihren Verbündeten jedoch vor einem Angriff gewarnt, da sie in diesem Fall eine humanitäre Katastrophe befürchten. In Rafah haben rund 1,5 Millionen Zivilisten vor den Kämpfen Schutz gesucht.
Der Angriff auf den WCK-Konvoi wirft auch ein Schlaglicht auf die Einsatzregeln der israelischen Streitkräfte. Sie wurden seit Beginn des Gaza-Kriegs gelockert, Israel nimmt mehr zivile Opfer in Kauf als in früheren Kriegen. In einigen Teilen der israelischen Armee habe sich eine Kultur entwickelt, in der «Soldaten zuerst schiessen und danach Fragen stellen», sagte ein hoher israelischer Beamter der Zeitung «Times of Israel» am Mittwoch.
Bereits vor einigen Tagen hatte «Haaretz» von sogenannten «Tötungszonen» in Gaza berichtet: Gebiete, etwa in der Nähe von Checkpoints, in denen israelische Soldaten ohne Vorwarnung auf jeden schiessen, der sich bewegt. In Gaza lege jeder Kommandant die Einsatzregeln der Streitkräfte aus, wie er wolle, berichtete die israelische Tageszeitung unter Berufung auf Sicherheitskreise.
Die israelischen Streitkräfte kündigten eine gründliche Untersuchung des Vorfalls an, die Ergebnisse sollen in den nächsten Tagen präsentiert werden. Als erste Konsequenz aus dem Vorfall wird Israel ein gemeinsames Hauptquartier des Südkommandos der Armee sowie der Regierungsbehörde Cogat etablieren, die für die Verteilung humanitärer Hilfsgüter in Gaza zuständig ist, um die Koordination zu verbessern.
Was bedeutet der Vorfall für die Menschen in Gaza?
World Central Kitchen ist einer der wichtigsten Lieferanten von Nahrungsmitteln in Gaza. Es ist die einzige Organisation, die bisher Hilfsgüter über den Seeweg nach Gaza gebracht hat. Nach der Tötung ihrer Mitarbeiter stellte WCK ihre Aktivitäten vorerst ein. Ein Frachtschiff der Organisation mit 240 Tonnen Nahrungsmitteln an Bord, das auf dem Weg nach Gaza war, kehrte wieder nach Zypern um. Bereits jetzt herrscht im Gazastreifen Hunger, vor allem im Norden. Es ist zu befürchten, dass sich die humanitäre Situation nun weiter verschlechtert.
«Wie viele andere Hilfsorganisationen waren wir auf World Central Kitchen angewiesen, damit Patienten und unsere Mitarbeiter ernährt wurden», sagte Christopher Lockyear, Generalsekretär von Ärzte ohne Grenzen, am Donnerstag an einer Medienkonferenz. Lockyear war selbst Ende März in Gaza. Auch fünf Mitarbeiter seiner Organisation wurden seit Beginn des Kriegs getötet. Insgesamt starben in Gaza rund 200 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Der Generalsekretär spricht von bewussten Angriffen der israelischen Armee auf humanitäre Helfer. «Wir erwarten mehr als Entschuldigungen von Israel.»
Laut Ärzte ohne Grenzen ist nicht nur die medizinische Versorgung in Gaza kaum mehr gewährleistet – ihre Mitarbeiter registrieren auch immer mehr Fälle von akuter Unterernährung. Trotz der Tötung der Helfer von World Central Kitchen bleibe seine Hilfsorganisation in dem Küstenstreifen, sagte Lockyear. «Doch wir bewerten jeden Tag neu, ob wir weiter in Gaza präsent bleiben.»